Lebensraum. Leben im Raum. Lebendige Räume. Raum zum Leben. Geräumiges Leben.
Wie gestalten wir unsere Umgebung? Und wie viel Umgebung haben wir eigentlich zur Verfügung?
Von Tina Heinz
Das Wort Lebensraum ist ein großer Begriff, der so vieles umfasst. Aus Perspektive der Biologie und Ökologie etwa ist damit ein Biotop, ein Habitat oder auch die Biosphäre gemeint. Humanwissenschaftler definieren mit diesem Begriff eher den Raum, den eine soziale Gruppe bewohnt. Und seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt der Ausdruck auch in der Geopolitik eine gewichtige Rolle. Vor allem weil die Nationalsozialisten ihn zu einem der Schlüsselbegriffe ihrer Ideologie erhoben, was sich u.a. im „Unternehmen Barbarossa“ oder im „Generalplan Ost“ niederschlug.
Doch so weit wollen wir an dieser Stelle gar nicht gehen. Mit diesem Thema könnte man schließlich Bücher füllen. Wir wollen lieber einen Blick auf den „kleineren“ Lebensraum werfen … auf den Lebensraum eines einzelnen Menschen, der sich im Laufe dieses Menschenlebens so oft verändert und auf unterschiedliche Weise beeinflussen lässt.
Lebensraum – also vereinfacht ausgedrückt: der Raum, der eine Person umgibt … Für ein Baby ist dieser Lebensraum noch stark begrenzt und es hat noch keinen Einfluss auf die Gestaltung dieser Umgebung. Weder auf die Farbe des Kinderwagens, noch auf die Form des Kinderbettchens. Und auch sonst muss ein Säugling einfach hoffen, dass Mama und Papa das schon richten. Doch bereits nach ein paar wenigen Jahren werden erste Ansprüche gestellt. Die Tapete mit den niedlichen Tieren ist nicht mehr schön genug. Minions an der Wand zu haben, wäre doch viel besser. Und ein Hochbett, von dem man herunterrutschen kann ist sowieso interessanter als das alte Bett.
Und in der Jugend? Herrje! Da würde man das eigene kleine „Reich“ am liebsten hermetisch abriegeln, damit kein Erwachsener diese besondere Welt betritt. Wände – zugeklebt mit Postern, Fotos und anderen Bildern. Eine Farbauswahl, die einem beim Rückblick nach vielen Jahren die Augen zusammenkneifen lässt. Und sollte jemand einen Einwand gegen die Gestaltung der eigenen vier Wände äußern, dann beginnt der Zirkus erst richtig.
Dann gibt es noch die Besuche bei Oma und Opa oder anderen älteren Verwandten. Kein direkter Lebensraum, auf den man Einfluss nimmt, aber immerhin unmittelbare Umgebung … ist ja schließlich Familie. Häufig erscheint einem die Welt der älteren Verwandten als merkwürdig geheimnisvoll. Dieser Geruch, der die Wohnung durchzieht. Verblichene Teppiche und abgenutzte Sessel. Tapeten mit kuriosen Mustern wie aus einem weit zurückliegenden Jahrzehnt. Große, unverrückbare Schrankwände. Und Lampenschirme in skurrilen Formen, die von der Decke hängen.
Furchtbar! Denkt man sich da mit 15. Doch 20 Jahre später ist das plötzlich retro, total schick. Vielleicht kann man die eine oder andere Lampe von Omi abstauben. Oder sogar das Küchenbuffet mitnehmen und etwas aufpolieren … sozusagen „upcyceln“. Macht sich ja gut solch ein altes Stück zwischen den eigenen modernen Möbeln. Denn mit dem ersten selbst verdienten Geld leisten sich die meisten auch die eigenen vier Wände und was eben dazugehört. Keiner mehr, der über die Fotoauswahl an der Wand nörgelt. Niemand, der eine Standpauke hält, weil Ordnung doch nicht immer groß geschrieben wird. Keiner, der fragt, ob man dieses oder jenes wirklich braucht. Außer der Partner oder die Partnerin … Aber mit ihm oder ihr wird man sich schon einig. Kompromissbereitschaft nennt sich das. Und die ist bei der Lebensraumgestaltung hin und wieder von Nöten.
Mit der Loslösung vom Elternhaus und dem Einzug in die eigenen vier Wände vergrößert sich der Lebensraum, den man selbst gestalten kann, meist um ein vielfaches. Es ist nicht mehr nur das Kinder- oder Jugendzimmer. Plötzlich kann man auch über Küche, Badezimmer und Wohnzimmer herrschen. Vielleicht sogar über Balkon oder Garten. Schier grenzenlos scheinen die Möglichkeiten – zumindest auf den paar Quadratmetern, die jeder sein Eigen nennt. Fast paradiesische Zustände sind das.
Ein paar Quadratmeter … das bedeutet für die Bundesrepublik Deutschland eine Durchschnittswohnfläche von 46,3 Quadratmetern pro Person. Diese Zahl wurde Mitte 2013 auf Grundlage des Mikrozensus vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) veröffentlicht. In der Bundeslandstatistik liegt bei der Pro-Kopf-Wohnfläche Saarland mit 53,1 Quadratmetern an der Spitze. Schlusslicht ist Hamburg mit 39,8 Quadratmetern. Sachsen-Anhalt liegt mit 45,7 Quadratmetern im Mittelfeld.
Zieht man die durchschnittliche Wohnfläche pro Wohnung in Betracht, erreicht Deutschland einen Wert von 90,9 Quadratmetern. Der meiste Platz pro Wohnung ist mit 103,7 Quadratmetern in Rheinland-Pfalz vorhanden. Schlusslicht ist in dieser Statistik Berlin mit 72,2 Quadratmetern, Sachsen-Anhalt liegt im unteren Mittelfeld mit 79,1 Quadratmetern Wohnfläche pro Wohnung. Das ergab die Gebäude- und Wohnungszählung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, die Anfang 2014 veröffentlicht wurde.
Vergleicht man die Zahlen des BiB mit älteren Statistiken, lässt sich daraus ablesen, dass wir zunehmend mehr Lebensraum zur Verfügung haben. Während im Jahr 1998 jeder Einwohner Deutschlands auf durchschnittlich 39 Quadratmetern lebte, ist die Pro-Kopf-Wohnfläche – wie bereits erwähnt – auf mittlerweile mehr als 46 Quadratmeter angewachsen. Eine der Hauptursachen ist wohl ein höherer Anspruch an die Wohnungsgröße und eine veränderte Haushaltsstruktur. Vor allem die Zunahme der Ein- und Zweipersonenhaushalte habe nach Angaben des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung dazu geführt, dass die pro Kopf zur Verfügung stehende Wohnfläche gewachsen ist.
Die Analyse des BiB zeigt außerdem, dass die Wohnfläche pro Kopf mit zunehmendem Alter kontinuierlich ansteigt. Bei Starterhaushalten bis 25 Jahre sind es im Schnitt weniger als 40 Quadratmeter, bei 65-Jährigen hingegen etwa 55 Quadratmeter. Die steigende Lebenserwartung und die verbesserte gesundheitliche Verfassung habe demnach dazu beigetragen, dass Senioren immer länger in der Wohnung bleiben, in der einst die ganze Familie gelebt hat.
Haben wir also immer größere Gestaltungsspielräume je älter wir werden, was unseren eigenen Lebensraum betrifft? Welche Wünsche erfüllt man sich noch – finanzielle Möglichkeiten vorausgesetzt? Kamin, Sauna oder Pool. Musikzimmer, Sportraum oder Bastelzimmer. Begehbarer Kleiderschrank, begehbarer Kühlschrank. Heutzutage ist vieles möglich. Die Gestaltungschancen scheinen unendlich. Oder werden wir ab einem gewissen Alter des Gestaltens überdrüssig? Fragen wir uns: Wozu das alles? Ich habe ja sowieso nicht mehr viel davon …
Und dann, wenn der Gesundheitszustand es nicht mehr anders zulässt, setzt vielleicht eine Rückentwicklung ein. Der Lebensraum, die eigenen vier Wände werden wieder kleiner. Die Gestaltungsmöglichkeiten geringer. Und dann spielen all die Quadratmeter-Angaben keine Rolle mehr.