Freiheit und Gerechtigkeit

060915pg_schorlemmer12Für das Reformationsjubiläum schuf Yadegar Asisi das über 1000 Quadratmeter große Luther-Rundum-Panoramabild, vermittels dessen man sich in die mittelalterliche Stadt zurückversetzen kann. Landauf, landab hört man vom Erschrecken über die antisemitischen Ausflüsse des Reformators, die nur historisch gänzlich Ungebildeten als Neuigkeit verkauft werden kann. Trotz Luther-Jubiläum fragt man sich, wenn man nicht gerade zufällig zu den paar Protestanten gehört, was der ganze Rummel um wen, bitte, denn soll. Weder Bibel noch Kirchengeschichte sind präsent. Einer der Wenigen, den die Vergangenheit weniger interessiert als die Zukunft, der „Wittenberger vom Dienst“, Dr. Friedrich Schorlemmer, gab zum Jubiläum der Reformation ein Buch heraus namens „Unsere Erde ist zu retten – Haltungen, die wir jetzt brauchen“, mit dem Fingerzeig: „Die Reformation geht weiter.“ Ludwig Schumann befragte ihn für MAGDEBURG KOMPAKT deshalb in seiner Heimatstadt.

Das Reformationsjubiläum naht zu einer Zeit, in der es scheint, dass es den Menschen eher gleichgültig ist, weil sie sich angesichts der Frage der Geflüchteten in Angst bewegen, weil für sie seit den Jahren, in denen soziale Rückwärtsbewegungen als politische Reformen verkauft wurden, verschaukelt fühlen, in der sich die Gesellschaft immer stärker aufspaltet in besitzende und nicht besitzende Schichten. Und man hört wenig Zukunftgreifendes zum Thema Reformation. Verkommt das Jubiläum zu einem reinen Gedenkjubiläum, in dem man sich im vermuteten Ruhm von Gestern schaukelt?

Friedrich Schorlemmer: Martin Luther hat seinen Reformansatz immer als einen von innen her kommenden Prozess beschrieben, wie er beispielsweise in seiner epochalen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ beschrieben hat: Niemand kann dem Einzelnen Vorschriften machen, wie er zu leben hat. Schon gar nicht die Mächtigen. Der Freie handelt. Da sind wir beim springenden Punkt: Der Freie lässt nicht etwas mit sich machen, sondern er handelt! Er steht nicht im luftleeren Raum, sondern er ist frei, jetzt das Nötige zu tun, ohne dass er Angst hat, dass Gott nicht gefiele, was er tut. Der Mensch als Mensch im Prozess der Reformation kommt selber zu einer Erneuerung in seinem Denken, Fühlen, Trachten, Hoffen, Glauben. Solch ein befreiter Mensch steht nicht in der Gefahr, zum Mitläufer zu werden. Luthers Grundsatz ist: Vertraue dem Gott, der dir gnädig ist und tu dann das Fällige. Mit Luther kann man sagen: Freiheit ist immer eine Freiheit für etwas. Wenn wir das begreifen, wissen wir auch, dass der Prozess der Reformation von Kirche und Gesellschaft gar nicht zu Ende gehen kann.

1989, das Jahr des politischen Umbruchs, steht ja für eine Zeitenwende. Die Gesellschaft, die eigentlich die Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte, endete in der Freiheit, in welche die Menschen aufbrachen. Die Zeit der Bevormundung war mit diesem Datum vorbei. Ende gut, alles gut? Welchen Themen müssten sich Kirche und Gesellschaft anlässlich des Jubiläums eigentlich zuwenden?

Die Freiheit von der Bevormundung ist zugleich die aus dieser erlebten Freiheit gewonnene Einsicht, für das Wohl des jeweils Nächsten sich zu engagieren. Man kann die Botschaft der Bibel auf zwei Sätze bringen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ und „Du sollst deinen Gott von ganzem Herzen und ganzem Gemüte lieben.“ Im heutigen Deutsch: Du kannst mit deinem ganzen Herzen, mit deinem ganzen Denken und Wollen in der Welt so tätig werden, dass wir uns aneinander als Mitmenschen erfahren.

Falsch läuft es in der Welt, wenn mein Tun Teil eines Schachers wird: Gibst du mir das, gebe ich dir jenes. Im Ablasshandel seiner Zeit sieht Luther, dass Gott mit diesem Denken zum Großbanker gemacht wird, der vorzeigbare Guttaten aufrechnet gegen getane Sünden. Wer meint, dass wäre ein Gedankengut der Vergangenheit, der irrt. Dieses Denken umfasst heute die ganze Welt. Der große Weltschacher, gegen den müssen wir heute angehen. Die Frage nach der Gerechtigkeit muss wieder auf den Tisch. In meinem Buch habe ich geschrieben: „Wir brauchen eine Haltung, die puren Egoismus verhindert, die materialistische Gier nicht legitimiert und Verantwortung für die künftigen Generationen übernimmt.“

Das klingt hehr. Aber montags Pegida in Dresden, AfD-Wahlversammlungen zeigen neben hetzerischen Reden von der Realpolitik tief verunsicherte Menschen.

Der Mensch, der so handeln kann, wie ich es beschreibe, hat ein Fundament. Er weiß, dass er befreit ist. Und er weiß, dass er aus diesem Wissen heraus eine Verantwortung wahrnehmen will. Man müsste jetzt fragen, was verhindert hat, dass Menschen nach ihrer erlebten Befreiung aus ihrer Unmündigkeit aufgebrochen sind. Was sie also in einer Art orientierungsloser Angst verharren lässt? Unser Problem sind doch nicht die Menschen, die zu uns kommen, weil sie um Leib und Leben fürchten müssen, sondern dass Megakonzerne viel Geld mit dem Export von Waffen verdienen, dass die Weltmeere ausgefischt werden – und damit den Menschen an den afrikanischen Küsten die Lebensgrundlage entzogen wird, dass die Großkonzerne in unserem Namen in Afrika Kleinbauern, deren Besitz nicht in Grundbücher eingetragen ist, weil es diese nicht gibt, von ihrem Land verjagen und riesige Monokulturen an Soja anbauen, das dann als billiges Viehfutter hierher gelangt und die schweinische Haltung von Mitgeschöpfen in Großtieranlagen, sprich die billigen Lebensmittelpreise ermöglicht. Wobei diese Entwicklung in Richtung Anbau bodenzerstörender Monokulturen wie der Anbau von Mais für den Betrieb von EU-geförderten Biogasanlagen auch bei uns längst begonnen hat. Die Verrapsung und Vermaisung unserer Landschaft ist ein Verbrechen am Mutterboden für unsere nächste Generation.

060915pg_schorlemmer12Wer um seine innere Befreiung weiß, erkennt, dass man so mit dem Mitmenschen nicht umgehen darf, erkennt auch, dass das Schwein, das Huhn kein Stück Fleisch, sondern ein Mitgeschöpf ist, dass mit Feld und Flur verantwortlich umgegangen werden muss und engagiert sich. Das ist ein Thema der Reformation: Wie gehen wir mit unserer Schöpfung um? Wenn man bedenkt, dass unser Wort „Kultur“ vom lateinischen „agri cultura“ kommt – das älteste lateinische Buch heißt „de agri cultura“, also „Über den Ackerbau“, und stammt von Cato dem Älteren – dass es in Generationen von Bauern immer auch darum ging, den Boden so zu behandeln, dass er auch in der nächsten und übernächsten Generation Erträge aufbringen kann, dann mutet es schon seltsam an, dass sich heute die Bauern im Namen eines unbewiesenen Fortschritts bestechen lassen, überall im Land, selbst in der Börde, wertvolles Land zuzubetonieren, dass man diese 200 Meter hohen Riesenwindräder aufstellen kann! Unterhalb der Windräder jagt kein Milan mehr, so dass man zu allem Überfluss um die Mühlen Gift streuen muss, um die Zahl der Mäuse zu begrenzen.

Wie gesagt: Unser Umgang mit der Schöpfung ist ein bleibendes Thema der Reformation. Dazu gehört die Frage, wie wir mit den Ressourcen dieser Erde umgehen, beispielsweise mit dem Wasser? Hoymar von Ditfurth hat 1985 zu diesen Fragen das Buch „Lasst uns ein Apfelbäumchen pflanzen – es ist soweit.“ veröffentlicht. Jetzt ist es höchste Zeit dafür!

Und noch eines ist dabei zu sagen: Es ist diese rücksichtslose Verfügungsgewalt über das Eigentum durch etliche MEGA-Konzerne, diese nicht mehr zu übersehende individuelle, kollektive und strukturelle Gier, die es eben nicht nur einfach gibt, sondern die die gesamte Gesellschaft ergreift und zerstört, die nun andererseits zu einer unausweichlichen Frage führt: „Wer verfügt über wieviel“, habe ich sie in meinem Buch benannt. „Und welcher Besitz hat welche politischen, rechtlichen, ökonomischen, ökologischen, psychologischen, militärischen Folgen?“ Das muss man konsequenterweise dann auch fragen. Mit anderen Worten, ich zitiere noch mal: „Zukunftshoffnungen gibt es nicht mehr ohne Kapitalismuskritik, die durchaus an den Systemgrundlagen rüttelt.“ Carl-Friedrich von Weizsäcker sagte bereits 1986, dass neben der Friedensfrage für ihn, für das Überleben der Menschheit, die ausbleibende Weltgerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung in all ihrer Vielfalt ganz oben auf der Agenda stünde.

Wenn ich diesen Gedanken in der Gesellschaft installieren will, reicht nicht die Informationsaufnahme des Einzelnen über Zeitung, Rundfunk, andere Medien. Wir haben ja kein Defizit an Informationen, zumindest an Informationsmöglichkeiten. Wie schafft man das, aus dem, was der Einzelne weiß, eine gesellschaftliche Handlungsoption zu gewinnen?

Das ist ein schwieriges Thema. Bleiben wir erst einmal bei den Informationen: Die Welt ist ein Gegenstand der finanziellen Aufteilung geworden. Alles, aber auch alles wird lediglich noch unter Gewinngesichtspunkten gesehen und gewertet. Wir sind einer der Hauptsünden verfallen: Der Gier. Gier bedeutet: Mehr haben wollen, als man je brauchen kann, bei gleichzeitigem Wissen, dass andere nicht das haben, was sie zum täglichen Leben brauchten. In meinem neuen Buch habe ich es, mit Bezug auf die gewünschte Kommunikation, so beschrieben: „Wer die Welt ändern will, wer den großen Zukunftsproblemen begegnen will, muss es als jemand tun, der die Welt liebt, der ein gutes Verhältnis zu seinen eigenen Bedürfnissen, zu seiner Sinnlichkeit findet. Die Voraussetzung dafür ist Staunen, Danken und sich Freuen, was an dieser Welt einfach unglaublich ist zu sehen und zu schmecken, zu riechen, zu betas-ten und zu hören ist.“ Nicht beklagen, was wir nicht haben, sondern dankbar sein für das, was wir haben. Das setzt voraus, dass wir Befreiung erlebt haben.

Die Realität zeigt, dass ich das Einüben dieser Fähigkeiten nicht dahin zurückverlagern kann, wo es eigentlich hingehörte, in die Familie. Für einen qualifizierten Austausch stelle ich mir das Einüben in einem „Lebensunterricht“ vor, in welchem man „Leben“ lernt, montags beispielsweise Kochen, Schulgarten, Werken oder Begegnungen mit dem Arbeitsumfeld von Erwachsenen, Deeskalationsunterricht, gemeinsames Handeln. Schule, denke ich, darf nicht nur eine Station zur Anhäufung von Wissen sein, sondern muss zunehmend „Lebensschule“ werden.

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Reformation war, die Bildung, die vorher allein den Eliten vorbehalten war, zu demokratisieren. Jeder sollte über eine Schulbildung verfügen. Ich denke, dass Schule wieder mehr in den Lebensvollzug gehört, das neben den „normalen“ Schulfächern eben Kochen, Backen, Musik, Sport etc. dazugehören, weil man da so viel Anderes noch nebenbei lernen kann, Fairness beispielsweise beim Sport, Singen im Fach Musik. Die motorischen Dinge, die reflexiblen Dinge sind wichtig, ebenso wie ein Gefühl für die Verletzlichkeit der Natur. Carl-Friedrich von Weizsäcker hat das einmal sehr schön gesagt, indem er Schule ein ganzheitliches Betrachten dieser Welt genannt hat, das den Menschen freimacht. Die Kinder müssen im Unterricht wieder lernen, dass hinter jedem Lebensmittel, das ich einkaufe, ein Herstellungsprozess liegt, der einen Boden braucht, der auch in Generationen noch bebaubar sein muss, dass wir Mitgeschöpfe haben, die einen Anspruch auf ein gutes Leben haben, auch oder gerade weil wir sie irgendwann einmal essen werden.

Das heißt, wenn wir heute Reformation als fortlaufenden Prozess begreifen, müssen wir heute, was die Gesellschaft betrifft, wie damals auch, bei der Bildung wieder anfangen?

Ja. Natürlich. Sich ein Bild von der Welt machen und überprüfen, ob das Bild, was man sich von der Welt gemacht hat, auch stimmt. Das Bild von der Welt müssen wir uns selber machen, indem wir sehr frühzeitig etwas von ihr erfahren. Wobei wir dabei sofort auch erfahren, dass es nicht geht, wenn wir unseren Teil nicht dazu tun. Novalis hat das in seinem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ sehr schön beschrieben:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Die romantische Weltsicht, die, das muss man auch sagen, leider faschistisch nutzbar war, ist eine, die von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ herkommt. Die, was ist, durchleben will. Die ganze romantische Literatur hat sich stark auf Frühling und Herbst bezogen. Es gibt in der deutschen Romantik unendlich viele Herbstgedichte. Bis hin zu Rilke. Wer das in der Natur erlebt, in der Literatur widergespiegelt findet und das in sich aufnimmt, merkt, was für einen inneren Reichtum er jetzt plötzlich hat, statt dass er ständig mit dem Daumen auf dieses komische Ding, das Smartphone, starrt, ohne das kein Leben mehr möglich scheint.

Das Lösungswort ist doch die unmittelbare Begegnung mit Natur, mit Kultur. Zum Lebensunterricht gehören Besuche von Altersheimen, Behindertenheimen, Jugendheime besuchen, ein Krankenhaus, eine Produktionsstätte besuchen. Kommunizieren lernen mit Menschen unterschiedlicher Generationen. Ich wollte nur sagen: Der Ansatz der DDR-Schulen ohne dessen ideologische Aufladung, der Polytechnischen Oberschule, war nicht so schlecht. Da kriegten auch mal die Kinder von betuchten Leuten schwielige Hände im Produktionsunterricht, beim Aufsammeln von Kartoffeln, beim Herausreißen von Rüben, wenn sie dann das Grün abhackten. Diese sinnlichen Vorgänge, die es jahrhundertelang gegeben hat, denen werden die Menschen heute zu 95 Prozent völlig entfremdet. Diese Entfremdung gilt es zu überwinden. Dazu brauchte man in der Politik Menschen, die das wissen. Dafür brauchen wir in der Politik, unabhängig von der Parteifarbe, Menschen, die wissen, dass es nicht reicht, beim Ökobauern und im Reformhaus einkaufen zu können, sondern die das Soziale gleichzeitig auch mit im Blick haben. Da wären wir wieder bei der Gerechtigkeitsfrage. Bildung. Ja, ein bleibender Auftrag der Reformation. Vor allem auch die Reform der Bildung, die neben dem Sachwissen auch Orientierungswissen und Fertigkeiten im Blick behält.