Kapitalismus 2.0: Abschied von der Lohnarbeit?

grafik_seite4aDie Kapitalströme in der Welt ändern sich. Während immer weniger Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen können, machen große Internetfirmen aus privaten Daten Profit. Das Zeitalter des „Informationskapitalismus“ hat begonnen. Von Viktor Otte

Bisher hatten wir gelernt, dass das Wesensmerkmal des Kapitalismus darin besteht, dass Besitzer von Kapital und Produktionsmitteln mit der Arbeitskraft des sogenannten Arbeitnehmers geistige oder materielle Werte schaffen lassen und ihm, dem Arbeitnehmer, ein gewisses Äquivalent dieser Arbeitsleistung als Lohn zur Verfügung stellen. Stehen Lohn und Leistung in vernünftiger Relation, ist der Arbeitnehmer gemeinhin zufrieden. Diese Jahrtausende alte Tradition der Vermögensteilung wird in unserer Gesellschaftsordnung kaum in Frage gestellt; sie wird als natürlich und wurde in früheren Zeiten auch als gottgewollt empfunden. Kummer, Rebellion und Aufstände gab es immer nur dann, wenn das Missverhältnis zwischen der privaten Aneignung des Gewinns und dem Lohn für den Verkauf der Arbeitskraft zu groß wurde, also klassische Ausbeutung vorlag. Grundsätzlich gab es aber von keiner Seite je Zweifel darüber, dass die zur Verfügung gestellte Arbeitskraft – als Ware sozusagen – bezahlt werden muss. Diesen ehernen Grundsatz des kapitalistischen Wirtschaftens setzt nun der Kapitalismus selbst durch ein äußerst heimtückisches Verfahren außer Kraft. Wir befinden uns parallel zur digitalen Revolution in einer revolutionären Entwicklung zu einem Kapitalismus 2.0, zum Informationskapitalismus. Lassen Sie uns zur Erklärung etwas ausholen:
Es steht außer Zweifel, dass wir nicht nur Eigentümer unserer körperlichen und mentalen Arbeitskraft sind, sondern auch Besitzer einer Vielzahl von Eigenschaften, die man als Daten bezeichnen könnte. Wir haben einen Namen, ein Gewicht, Größe, Alter, Wohnort usw., wir haben Ziele, Hoffnungen, Pläne, sind gesund oder krank, besitzen viel oder wenig Geld, haben eine Wohnung oder ein Haus, ein Fahrrad oder ein Auto. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Diese Daten beschreiben unsere Persönlichkeit im engeren und im erweiterten Sinn. Durch ihre Zusammenfassung entsteht ein Dossier. Wir sind dann das, was wir als Daten sind. Ein Dossier lässt sich z.B. verkaufen. Seit einigen Jahren sammeln Unternehmen unsere Daten, die wir durch unsere schlichte Exis-tenz, aber auch durch unsere freiwillige Teilnahme an der digitalen Kommunikation erzeugen. Schon früher hat das Einwohnermeldeamt wie selbstverständlich unsere Personaldaten gesammelt und weiterverkauft (wie eine überregionale Zeitung gerade schrieb, erwirtschaftet Hannover mit dem Verkauf von Einwohnerdaten rund 320.000 Euro im Jahr). Bei Amazon oder ähnlichen Internethändlern wird mit unseren Kaufdaten ein Werbemechanismus aktiviert, der uns beim wiederholten Benutzen dieser oder anderer Internetseiten mit weiteren Angeboten ködern möchte. Sogenannte soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram usw. sammeln fleißig unsere Texte, Fotos und Filme. Google merkt sich alle unsere Bewegungen im Internet, die NSA und andere sogenannte Dienste akkumulieren nahezu ohne Kontrolle alle unsere Telefonate oder Mails. Wir selbst hinterlassen bei jeder Aktivität im Netz „digitale Spuren“ und erzeugen, wenn wir im Netz über jemanden schreiben, einen „digitalen Schatten“. In den Servern der Datensammler entsteht unser virtueller Doppelgänger, der mehr über uns weiß als wir selbst, denn er kennt nicht nur unseren aktuellen Zustand, sondern ist auch in der Lage, Prognosen über unsere zukünftigen Absichten zu erstellen; der Fachmann nennt sie prediktive Analysen. Und deshalb ist dieser Doppelgänger äußerst wertvoll. Er oder seine Prognosen können verkauft werden, an Internethändler, an Kranken- und Autoversicherungen, an Behörden (z.B. das Finanzamt), aber auch an zwielichtige Personen und Organisationen, die uns schaden können. Jetzt beginnt der Kapitalismus 2.0, der Informationskapitalismus. Obwohl die erzeugten Daten uns gehören, werden sie uns ohne äquivalentes Entgeld einfach gestohlen. Die Datenräuber denken gar nicht daran, uns für die gelieferten Informationen zu bezahlen. Hier wird also die eherne Grundregel des zivilisierten Kapitalismus „Kaufen und Verkaufen zu redlichen Bedingungen“ ausgehebelt. Das perfide an dieser Konstellation ist, dass wir die persönlichen Daten im Allgemeinen gezwungenermaßen zur Verfügung stellen müssen, wenn wir die Informationstechnik benutzen wollen. Zur „Entlohnung“ vermittelt uns die Smart – Technik dafür das erhebende Gefühl, auf diese Weise von den Produkten der modernen Technologieentwicklung zu unserem Vorteil profitieren und insbesondere an der unbegrenzten Freiheit des Internetzeitalters teilnehmen zu können. Besonders merkwürdig verhalten sich allerdings diejenigen, die ohne adäquate finanzielle Gegenleistung ihre Daten freiwillig zur Verfügung stellen, z.B. Smart-Watches-Besitzer (über 40 Prozent der Deutschen liebäugeln mit dem Kauf so einer Uhr), die ihre Pulsfrequenz, ihr Schlafverhalten, ihre Bewegungs- und weitere Fitnesswerte mit Freunden „teilen“ und natürlich zwecks Optimierung ihrer Körperfunktionen ihre Trainingsdaten online an den Datensammler weitergeben. Krankenversicherungen warten nur darauf, diese Daten kaufen zu können. Mitwirkende an der Testphase des Telematik-Tarifes der HUK-Coburg haben wenigstens die Hoffnung, dass ihre Autoversicherung durch das online aufgenommene Fahrverhalten kostengünstiger werden könnte (in Zukunft sollten sie aber durchaus auch mit dem Gegenteil rechnen). Die Community, die uns 500 Freunde vorgaukelt, denen wir unsere Sorgen und Nöte, aber auch Glücksgefühle und Freuden mitteilen, hat ein Janusgesicht. Sie vergisst nicht. Im Vordergrund kommunizieren wir, im Hintergrund sammelt der Informationskapitalist unsere persönlichen Daten, um sie zu Geld zu machen.
Natürlich hat das alles Konsequenzen. Neben der wie selbstverständlich laufenden Abschaffung der Privatsphäre werden die Datenkraken reicher und bekommen zunehmend Macht über uns. Sobald der Staat unsere Daten sammelt, besteht noch die Hoffnung, dass er es nicht zu unserem Schaden tut. Von den privaten Konzernen wie Facebook & Co. werden wir moralische oder ethische Bedenken bei der Datenvermarktung aber kaum erwarten können. Streaming-Dienste für Musik und Videos oder Live-Streaming zeigen z.B., wie es künftig um das Urheberrecht bestellt sein wird. Geistige Leistungen, die wir im Internet Dritten mitteilen, gehören uns ggf. nicht mehr. Hier sollte man die AGB gründlich lesen. Das latent in uns existierende Misstrauen gegen Beobachtung wird erst präsent, wenn wir wirklich glauben, äußerst sensible, schützenswerte Daten preiszugeben, z.B. unsere Bankverbindung im Internet. Sollten wir aber eine neue kreative Idee, eine Patent- oder Warenmusteridee nicht ebenso behandeln? Hier ist der gute alte Brief, vielleicht auch das Faxgerät noch immer besser als eine Mail oder das Zwitschern im sozialen Netz.
Was können wir also tun? Mit dem weiteren technischen Fortschritt werden auch das Eindringen und die Aneignung unserer Privatsphäre bis hin zur Entmündigung durch Dritte zunehmen. Im autonomen Auto oder im „intelligenten“ Haus oder bei der Drohnenzustellung unserer Bestellungen durch Amazon werden wir bequem und betreut fahren, leben und kaufen, für den oben genannten Preis der Entpersönlichung und möglicherweise auch unserer Würde. Soll Artikel 1 unseres Grundgesetzes, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, auch in Zukunft gelten, müssen wir sensibler werden. Nicht alles, was technisch möglich ist, ist zulässig. Der Smart-Fernseher, der uns auf dem Sofa beobachtet und unseren Gesprächen lauscht, ist unzumutbar. So, wie Ärzte einen Ehrenkodex haben, den Eid des Hippokrates, so müssen auch Naturwissenschaftler, Ingenieure und Ökonomen ethisch handeln. Technik-Freaks wird es immer geben, aber ihre Wünsche dürfen nicht der Maßstab für das massenhafte Einführen letztlich würdeverletzender Technik sein.
Aber das ist sicher ein weltfremder Gedanke, denn der Kapitalismus 2.0 ist schon stark. „You are the target“, sagt Snowden. Wenn er auch die NSA-Überwachung meint, und wir alle glauben uns empören zu müssen, telefonieren wir fleißig weiter, künftig auch mit Smart-Phones, von denen wir nicht mehr wissen, ob sie sich überhaupt noch ausschalten lassen. Abstinenz in der Nutzung digitaler Technik ist aber auch gefährlich, weil sie vermuten lässt, dass es da etwas zu verbergen gibt. Unser virtueller Doppelgänger passt auf.
Die Sache ist also ernst und es gibt keinen Königsweg. Die technikaffine Jugend wird sich ohnehin durch kein Wehklagen und Kassandra-Schreien der älteren Generation einschränken lassen. Nur eins muss jetzt klar sein: Statt eines entrüsteten Aufschreis bezahlen wir mit einer freiwilligen Schenkung die Räuber unserer Daten und lassen gleichzeitig schicksalsergeben zu, dass sie uns damit auch manipulieren werden, weit subtiler, als wir es uns im Augenblick noch vorstellen können. Der Kapitalismus ist in ein neues Stadium getreten und der Begriff der Ausbeutung bekommt eine weitere Facette seiner Bedeutung, wenn unsere genutzten Daten als Ware nicht den Regeln von „Wert und Gegenwert“ unterliegen. Der Informationskapitalist erwirbt sie „wertlos“. So viel Selbstlosigkeit hat es auf unserer schönen Welt bisher noch nicht gegeben. Und da der „gläserne“ Bürger nicht mehr selbstbestimmt handeln kann, weil er durch die Überwachung und Beeinflussung seiner Privatsphäre seine Individualität und Autonomie einbüßt, wird sich zwangsläufig auch unsere Gesellschaftsordnung verändern. Aldous Huxleys dystopischer Roman „Schöne neue Welt“ von 1932 bekommt im 21. Jahrhundert eine zusätzliche Komponente.

Der Autor Prof. Dr. Viktor Otte ist Mitglied des Magdeburger Professorenkollegiums emeritio