Weisheit entspannt, Torheit reitet Prinzipien

336 256 ø24 008Ich bin ein langsamer Leser, da bleibt mir manchmal etwas verborgen. Nehmen wir mal Russland und die Ukraine. Und, natürlich, die Krim. Also seinerzeit hatte Nikita „Schuhschwinger“ Chruschtschow auf ganz demokratisch-absolutistische Art kraft seines Amtes die Krim seiner Heimat, der Ukraine, geschenkt. Sozusagen im selben Gestus, wie seinerzeit die Zerbster Katharina die Krim Russland einverleibt hat.

Allerdings hatte das, wenn man dem Sohn von Nikita Chruschtschow in seiner Argumentation folgt, einfach wirtschaftspolitische Gründe, die mit dem Bau des Dnjepr-Krim-Kanals zusammenhingen. Das war auch nicht unbedingt das Problem, denn alles blieb ja im Rahmen der „Soffjetunjon“, wie Konrad Adenauer in Heilands Zeiten das Land auszusprechen pflegte. 1991 erfolgte die Implosion der SU. Plötzlich gehörte die Krim zu einem anderen Land.
Bereits 1988, anlässlich der Tausendjahrfeier der so genannten Taufe der Rus, als der spätere Großfürst Wladimir der Große sich am Dnipro taufen ließ, verkündete der 2006 zum Patriarchen gewählte Metropolit Kyrill I. die Zusammengehörigkeit Russlands, Weißrusslands und der Ukraine als eine geschichtlich-kulturelle Einheit, die der Taufe entsprang.
Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben „Euntus in Mundum“ zur Tausendjahrfeier der „Taufe“ der Rus von Kiew schrieb: „In der Nachfolge meines verehrten Vorgängers Pius XII., der den 950. Jahrestag der Taufe der Rus‘ feierlich hat begehen wollen, möchte ich mit diesem Schreiben dem unermeßlichen Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist Lob und Dank dafür aussprechen, daß er die Söhne und Töchter vieler Völker und Nationen, die das christliche Erbe der in Kiew gespendeten Taufe angenommen haben, zum Glauben und zum Gnadenleben berufen hat. Sie gehören vor allem zur russischen, ukrainischen und weißrussischen Nation in den östlichen Regionen des europäischen Kontinents. Durch den Dienst der Kirche, der in der Taufe zu Kiew begonnen hat, ist dieses Erbe über den Ural hinaus zu vielen Völkern Nordasiens vorgedrungen, ja bis an die Küsten des Pazifiks und noch weiter darüber hinaus.“
Berthold Seewald, leitender Redakteur Kulturgeschichte der Zeitung „Die Welt“ bezeichnet solche Argumentationen als Geschichtsklitterung von „Putin-Verstehern“ und verweist darauf, dass die Rus ja von Warägern, also Wikingern, und nicht Slawen gegründet worden sei. Deshalb könne Russland (das nach der Rus heißt) mit soviel Recht Anspruch auf Kiew erheben, wie Deutschland auf Rom um der Tatsache willen, dass es ein Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation gegeben habe (Die WELT 11.12.2014). Was will er damit sagen? Der Westen habe ein Recht darauf, dass die Ukraine dorthin strebe, weil sie in der Vergangenheit skandinavische Fürsten hatte und deshalb kulturell ohnehin nicht zu Russland gehöre? Ist das nicht ein wenig sehr gewagt? Sicher ist es schwer, mit Mythen rationale Politik zu machen. Aber sie ganz außer Acht zu lassen, wie man das von Seiten des Westens über die letzten Jahre getan hat, führt eben in die Sackgasse, in der heute das Verhältnis der EU zu Russland feststeckt. Da muss man kein „Putin-Versteher“ sein, um das rational einordnen zu können. Man muss die Art und Weise, wie Russland die Krim annektiert hat, nicht gutheißen. Es ist aber lächerlich zu glauben, dass man um eine Akzeptanz der Realität herumkommt, wenn man mit Russland wieder reden will. Sofern es in der Politik noch einen Funken an Verantwortung gibt (man wird sich Mühe geben müssen, diesen zu entdecken), vor allem aber, wenn man ohne ideologische Scheuklappen über Machbarkeiten nachdenken will (sofern man das noch kann) nicht darum herumkommen, Russland wieder einzubeziehen in das politische Tagesgeschäft, anstatt von einer „Wertegemeinschaft“ zu salbadern, die sich, bitte schön, wie äußert? Indem ich im Namen der Demokratie andere Völker überfalle (s. Irak), missliebige Regierungen stürze (s. Chile) oder eben, entgegen jeglichen Verträgen, als der Stärkere (natürlich nur auf Wunsch der östlichen Partner) eine NATO-Osterweiterung realisiere… Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Der jüngst verstorbene Egon Bahr wies noch einmal darauf hin: „Wir könnten wie zu Beginn der Entspannungspolitik sondieren – und beginnen, einseitig Sanktionen gegen Russland abzubauen.“ Entspannungspolitik hat etwas mit Weisheit zu tun. Leider scheint die Übersetzung von „Weisheit“ in der heutigen Politik unter Merkel, Schäuble und Gabriel (ausdrücklich auch: unter Gabriel) „Prinzipienreiterei“ zu sein. Meinen Sie nicht auch, dass das die falsche Deutung des Begriffs ist?

Ludwig Schumann