25 Jahre Deutsche Einheit – letzte Zugabe oder bleibende Aufgabe? Ludwig Schumann im Gespräch mit Friedrich Schorlemmer.
In Dieter Hildebrands letztem Buch „Letzte Zugabe“ erzählt er in seiner Trauerrede auf seinen Freund, den DDR-Kabarettisten Peter Ensikat, folgende Episode: „Peter war ein wunderbares Schlitzohr.
Als wir 1990, noch verblüfft von der geschichtlichen Wende, ein erstes Ost-West-Treffen im Theater Meiningen veranstalteten und ich ihm vorschlug, zur Eröffnung des Abends eine halbe Stunde lang etwas zu improvisieren, meinte er, das könne er gar nicht. Ihm fiele da nichts ein. „Wir sollten aber“, meinte er, „zum Zeichen der Wiedervereinigung der Kabarettisten eine symbolische Geste inszenieren. Du kommst von rechts – ich komme von links – und dann reichen wir uns die Hände.“ Ich meinte, das wäre etwas … na ja … ich hab’s dann nicht gesagt. Kurz, wir haben es gemacht. Allerdings. wir hatten ausgemacht, mit weit ausgestrecktem Arm aufeinander loszustürmen … taten wir auch, aber im allerletzten Moment machte er einen kleinen Ausfallschritt nach rechts, und unser beider Hände glitten aneinander vorbei. Das Publikum verstand – und der Abend war schon mit dem ersten Auftritt gerettet.“
Ludwig Schumann: Haben wir, die wir die DDR erlebt haben, noch etwas einzubringen in das heutige Deutschland? Anders formuliert: Was lohnte der Bewahrung?
Friedrich Schorlemmer: Grundsätzlich muss man folgendes voranstellen: Nicht alles, was Kommunisten als Propaganda gemacht haben, erweist sich rückblickend lediglich als kommunistische Propaganda. Zugespitzt gesagt: Was sie über den real existierenden Kapitalismus gesagt haben, trifft in vielem zu. Was sie über den real existierenden Sozialismus gesagt haben, ist fast nur Schrott. Manches entdecken wir jetzt erst im Abstand. (Schnitzler aber oder Hager liegen außerhalb jeder lohnenden Diskussion!) Der Kapitalismus ist nicht so eindeutig ein Irrweg, wie ihn die SED-Propaganda damals beschrieben hat. Aber er ist so, wie ihn Karl Marx im „Kapital“ einst beschrieb! Wo alles eine Frage des Geldes wird, wo Geld arbeitet, wo Geld zum Selbstzweck und zum Sinnersatz wird, nimmt es religiöse Züge an und zerstört mitmenschliche Beziehungen.
Was lohnt es zu bewahren?
1. Die Erfahrung, die wir gemacht haben, können wir in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Eine Gesellschaft, die nur von der Konkurrenz her lebt – es gibt zwar innerhalb bestimmter Interessengruppen auch Kooperation, aber ansonsten herrscht gnadenloses Konkurrenzdenken – übt einen permanenten Druck auf den Menschen aus, der ähnlich gnadenlos wirkt wie der ideologische Druck, den wir in DDR-Zeiten erfahren haben. Ich sage nicht, dass das der gleiche Druck ist, aber der Druck, den der Mensch empfindet, dem er ausgesetzt ist, ist vergleichbar. Wir als Menschen aus dem Osten können, ja müssen diesen Vergleich machen.
2. Ich habe immer noch den Eindruck, dass Ostdeutsche ein gesünderes Verhältnis zu Geld haben. Hier weiß man noch, was Leistung ist und was eine Leistung wert ist. Man hat sich ein möglicherweise anhaltendes Unverständnis dafür bewahrt, dass in dieser Gesellschaft nicht die Leistung lohnt und der rechte Wert bestimmt, sondern der Markt bestimmt, wie hoch der Preis ist. Es hat sich hier im Osten ein Unverständnis erhalten für die Tatsache, dass es nicht wichtig ist, was du geleistet hast, sondern dass manche Leute unendlich viel mehr verdienen, als sie für eine bestimmte Leistung verdienen dürften, während andere nicht das kriegen, was sie zum Leben brauchen, obwohl sie sehr viel leisten. Ich denke da zum Beispiel an den ganzen Sozialbereich, Gesundheitswesen, Altenpflege, die nicht ordentlich bezahlt werden. Ich denke an den Kulturbereich oder an diejenigen, die im Bildungsbereich arbeiten und nicht die Spur angemessen bezahlt werden.
3. Es bleibt ein spezifisches Selbstbewusstsein der Frauen. Da ist noch viel davon übrig. Wer davon mehr erfahren will, sollte Maxi Wanders Buch lesen, dass im Westen „Guten Morgen, du Schöne“, im Osten schlicht „Frauenprotokolle“ heißt. Was ist das für ein – heute manchmal schon verschüttetes – Bild von der Frau in der DDR, von ihrer Reflexionsfähigkeit, ihrem Sprachvermögen, ihrer inneren Stärke und Selbstachtung mit Selbstbewusstsein.
4. Es wird nach dem 25. Jahr der deutschen Einheit vielleicht endlich eine größere Neugier auf die Literatur der DDR entstehen, die, davon bin ich überzeugt, Bestand haben wird. Man denke nur daran, wie Erwin Strittmatter in „Der Laden“ sein Jahrhundert beschrieben hat. Oder wie Volker Braun mit seinen Stücken, mit seinen Erzählungen und Gedichten als Kommunist und Demokrat kritisch Bezug genommen hat auf seine Gesellschaft. Ich denke mir, dass 25 Jahre es lohnen, dass Ost- und Westdeutsche noch einmal wahrnehmen: Was ist denn hier für eine Literatur entstanden? Was für ein Theater wurde hier gespielt? Wie kam es, dass in der DDR so viel gelesen wurde? Wie kam es, dass es sich die DDR leistete, so viel Lyrik zu bezahlbaren Preisen zu veröffentlichen und diese auch gelesen wurde? Warum wollte es dieses Land, dass seine Bürger eine fünfbändige Leinenausgabe von Schiller für nur fünfundzwanzig Ostmark kaufen konnten? Warum wollte man die Zugänglichkeit zur Kultur so niederschwellig ansetzen? Und welche belebende, innovative, sinnstiftende Rolle hatte die Kunst in dieser Gesellschaft!
5. Das Wichtigste: Die DDR hinterließ eine Reihe uneingelöster Ziele, unerfüllter Hoffnungen, die wir um Gottes Willen, das meine ich auch so, nicht auf den Müllhaufen der Geschichte werfen sollten: Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer sei. Dass die Entfremdung aufhört. Dass die Welt nicht in Arm und Reich auseinanderklafft. Dass Bildung kein Privileg sein darf, sondern eine Grundbedingung demokratischer Kultur, dass Frieden neben Gerechtigkeit das höchste Gut ist, wenn sie in Freiheit geübt werden. Die DDR scheiterte auch daran, weil sie ihren Bürgern eine Bildung ermöglichte, die ihnen die Fähigkeit verlieh, den politischen Umbruch gewaltlos gestalten zu können. Bertolt Brecht hat der Hoffnung die Form der Kinderhymne gegeben und aufgeschrieben, was die DDR eben kaum eingelöst hat:
Kinderhymne / Bertolt Brecht (1949)
Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land
Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.
Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s
Und das liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.
Ludwig Schumann: Der Text wurde nicht mehr gelehrt. Wir haben eine Propaganda erfahren, die verhältnismäßig leicht durchschaubar war. Wir waren geeicht, den Subtext jeder Verlautbarung zu entschlüsseln und mitzulesen. Ist das auch ein Wissen, das heute vonnöten wäre?
Friedrich Schorlemmer: Wir haben noch ein paar Qualitätsmedien, MDR Figaro, Deutschlandradio Kultur, ORB 3, Kultur. Das gibt es noch. Leider ist der Kapitalismus so verlockend, dass sich Menschen ganz leicht dahinein begeben, ohne noch zu merken, wie sie vereinnahmt, wie sie manipuliert werden. Ich denke, um sich eine Meinung bilden zu können, muss man – und das kann man ja auch – mehrere Zeitungen lesen. Und kritische Vorsicht walten lassen: Wenn die zum Beispiel bei bestimmten Fragen sich alle einig sind, aber du dieser Meinung nicht bist, liegt der Verdacht nahe, dass man „von unsichtbarer Hand“ manipuliert werden soll. Zum Beispiel Russland. Der Meinung, die in der Presse offiziell vertreten wird, jedenfalls überwiegend, bin ich nicht. Und im Osten liest man viele Leserstimmen, die das ganz genauso sehen wie ich, die gegen einen neuen Kalten Krieg sind und den Dialog mit Russland nicht abbrechen wollen. Aber es gibt eine unsichtbare Hand, die keine Zensur ausübt, es aber trotzdem schafft, dass die Presse wie gleichgeschaltet klingt. Das äußert sich in den Kommentaren, aber auch in den Themen, die nicht gedruckt werden, oder mit geringer Beachtung. Egon Bahr hat wenige Wochen vor seinem Tod Russland besucht. Er traf dort auch Gorbatschow. Er hat in Russland versucht zu sagen, dass nicht alle Deutschen über die Russen das denken, worin sich die deutsche Presse und die deutsche Politik so einig zu sein scheinen. Wer mit Putin umgehen will, wird besser daran tun, mit ihm zu reden als ihn auszugrenzen. Es wurde in der deutschen Presse fast nichts über diesen Besuch berichtet. Aber hier kommt uns eine Erfahrung aus der DDR zugute. Die Menschen in der DDR haben gelernt, dass man von der Realität ausgehen muss. Man muss die Realität zunächst akzeptieren, wie sie ist und verstehen, warum sie so ist. Auf dieser Basis kann man sie verändern, langsam erst und unmerklich, aber eben Schritt für Schritt. Das haben wir gelernt, und das sollten wir in die deutsch-deutsche Gesprächskultur einbringen! Und Egon Bahr wiederum hat von westlicher Seite diesen „Wandel durch Annäherung“ erfolgreich praktiziert. Es war seine Strategie, die den „Kalten Krieg“ beendete. Ich habe den Eindruck, dass sich die Menschen hier im Osten in dieser Beziehung nicht so leicht ein X für ein U vormachen lassen. Sie sind nicht amerikafeindlich, aber amerikakritisch – genauso wie zu einem Russland, das autoritär geführt wird.
Ludwig Schumann: Die Einlassungen Friedrich Schorlemmers widersprechen den neoliberalistischen Zielstellungen. Wer soll, was oben formuliert ist, in diese Gesellschaft einbringen?
Friedrich Schorlemmer: Wir haben eine Verpflichtung gegenüber der jüngeren Generation, die manchmal gar nichts mehr über die DDR hören will. Sie sagt: Das ist ein abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte. Das geht uns nichts mehr an. Das stimmt so nicht. Es ist unsere Geschichte. Und Geschichte wirkt auf merkwürdige Weise nach. Ein Ostdeutscher, der fünfunddreißig Jahre alt ist, hat nur zehn seiner Lebensjahre noch in der DDR verbracht. Er merkt, dass da vieles in ihm geblieben ist, dass er zugleich neue Anpassungszwänge erlebt. Warum aber soll nicht erkennbar sein, woher einer kommt? Und anders denkt, aber denkt?!
Das Hauptproblem ist, dass das gesellschaftliche Sein das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt, und damit auch die gesellschaftliche Stellung eines Menschen. Aber als jemand, der Marx liest und kritisiert, muss man das gesellschaftliche Bewusstsein, also die Vorstellung, die man als Zielstellung von der Gesellschaft hat, auch verändern können. Das ist bisher uneingelöst. Dieser humanistische Überschuss menschlicher Ideen gegenüber der zweifellos brutal sich durchsetzenden Mehrwertgesellschaft und Verbrauchsgesellschaft braucht engagierte Subjekte mit lebensdienlichen ethischen Maximen. Was ist das für eine Welt, wo alle Dinge der Welt verbraucht werden und verbraucht werden müssen, damit wieder Neues produziert werden kann, was wiederum verbraucht wird? Das ist nicht zukunftsfähig. Wir brauchen Produkte, die auf längere Zeit hin funktionieren. Wir brauchen reparierbare Produkte. Und wenn wir dann etwas wegschmeißen müssen, muss auch alles auf seine Verwertbarkeit, seine Recyclefähigkeit geprüft werden. Diese hocheffiziente weltweite Wegwerfkultur muss beendet werden. Der Globus hält das nicht aus. Die nächsten und die übernächsten Generationen brauchen auch noch etwas von den begrenzten Ressourcen.
Ludwig Schumann: Nicht der Kunde ist König, sondern der Kunde darf aufschauen zum König, welches Angebot der ihm aufnötigen will. Ich bin nicht mehr Herr der Situation, ich kann mich nur noch einfinden.
Friedrich Schorlemmer: Da geht die Wegwerfkultur in eine Nötigungskultur über. Es gibt in der Wirtschaft eine inzwischen nicht mehr hinnehmbare Nötigungskultur. Du wirst nicht mehr gefragt, ob du eine Plastiktüte willst, du musst sie ausdrücklich ablehnen. Von der DDR bleibt da noch ein großartiger Satz von Karl Marx: „Vom Standpunkt einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so unmöglich erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem anderen Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als gute Familienväter den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ Das ist ein Wort, das über dem Eingang zu den Werksgeländen, über jeder Schule, über den Theatern hängen sollte. Wir aus dem Osten haben die Aufgabe, in diese Gesellschaft einzubringen, dass es nicht nur Steigerungsmöglichkeiten im ökonomischen Bereich gibt, es gibt auch Steigerungsmöglichkeiten im ökologischen Bereich, ja im geistigen Bereich. Wir sind noch nicht am Ende. Es wird heute immer noch ganz fantastische ernste Musik gemacht, klassische Musik gespielt. Aber man gehe heute mal in ein Konzerthaus in Berlin, Frankfurt am Main oder Leipzig …
Ich war zu einem Konzert, das der Sohn meines Freundes gab, ein großartiger Pianist. Er ging weinend aus dem Konzert. Ich war erschrocken und fragte, was ihn denn so erschüttert habe? Ja, fragte er zurück, ob ich mich im Konzert mal umgeschaut habe. Sein Vater und ich seien die jüngsten Konzertbesucher gewesen. Für wen er denn mal spielen solle?
Ludwig Schumann: Der Hamburger Dirigent und Pianist Cordt Garben, Ehrenmitglied der Internationalen Carl-Loewe-Gesellschaft e.V., sagte mir einmal: „Wir haben die bestausgebildetsten Musiker, aber wer sollen einmal ihre Zuhörer sein? Wir haben nichts dafür getan, auch Zuhörer für diese Musik auszubilden.“
Friedrich Schorlemmer: Das ist auch etwas, was wir in unsere heutige Gesellschaft einbringen sollten: In der DDR gab es zum einen die Begegnung der Schüler mit Theater und Konzertanrechten. Aber es gab auch eine Förderung für Musikschüler, die ein Instrument erlernen wollten oder sollten. Die Musikschulen in der DDR waren sehr gut. Der Zugang zur Kultur für alle war, auch wenn ich nicht nachträglich die so graue DDR idealisieren möchte, dass das nicht missverstanden werde, eben sehr viel niedrigschwelliger als heute. Wer den gesellschaftlichen Konsens, eine die Bürger miteinander in Freiheit verbindende Idee gewinnen und erhalten will, wird sich im Blick auf den aufklärerischen Wert der Kultur ein Beispiel nehmen können. Im Übrigen auch im Breitensport oder im scharfzüngigen Kabarett, bei dem du deinen Kopf schon einschalten musstest.
Ludwig Schumann: Da wird es wohl einen großen Chor geben müssen, der diese Melodie auch laut und vernehmlich singt. Ich danke für das Gespräch.