Die Einheit verband ein Volk und zerschnitt zugleich Lebenswege. Mittlerweile ist eine erste neue gesamtdeutsche Generation herangewachsen, aber die einstige Teilung hallt noch lange nach.
Von Thomas Wischnewski
Kritischen Stimmen zum Alltagsleben begegnet man ständig. Unmut über politische Entscheidungen und wirtschaftliche Prozesse gehören zur Selbstverständlichkeit. Scheinbare Fehlleistungen in Verwaltungen und viele andere organisierte gesellschaftliche Höhepunkte werden nur zu gern bemeckert. Man könnte meinen, die Deutschen seien ein Volk der Unzufriedenen und Nörgler. An jeder Stelle hat jeder etwas zu beklagen, weil es seiner Ansicht nach einfach schlecht läuft. Am 3. Oktober liegen 25 Jahre Deutsche Einheit hinter uns, die einem 40 Jahre lange geteiltem Deuschland ein einig Heimatland und eine gemeinsame Identität bescheren sollten. Gerade jetzt, in der Debatte über die ins Land strömenden Flüchtlinge, zeigen manche Finger von West nach Ost und wollen Unterschiede in Einstellungen und Werten benannt wissen. Natürlich gibt es dieses östliche Anderssein. Statt jedoch dessen progressives Wesen herauszustellen, haftet man im Westteil an bekannten Bewertungsmustern, die häufig auf ein vereinfachtes Geschichtsbild bauen.
Zunächst sei den vielen Kritikern hierzulande gesagt, dass in den vergangenen 25 Jahren in den fünf neuen Bundesländern und Berlin wahrscheinlich mehr Erdreich, Sand und Baustoffe bewegt wurden, als die alten Ägypter in ihrer mehr tausendjährigen Geschichte umgeschichtet hatten. Ohne die Finanz- und Wirtschaftskraft der alten Bundesrepublik wären diese Auf- und Umbauleistungen nicht denkbar. Trotzdem sind sie unter dem Strich eine gesamtdeutsche Leistung. Nur weil man die Chancen angenommen und die Investitionen mit millionenfacher Hände Arbeit zwischen Ostsee und Erzgebirge umgestetzt hat, lebt die Republik nun mit den sichtbaren Ergebnissen. In den baulichen Resultaten ist der Willi-Brandt-Ausspruch, „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, Wirklichkeit geworden.
Doch zurück zur Mentalitätsfrage und den besonderen ostdeutschen Befindlichkeiten. Was schnell in Vergessenheit geraten scheint, ist der innere Wandel, den Menschen im sogenannten Anschlussgebiet bewältigen mussten. Die Deutsche Einheit ist eben nicht nur ein Veränderungsprozess mit D-Mark-Einführung und Privatwirtschaft gewesen. Einem komplett neuen Einstellungs- und Wertesystem musste sich jeder stellen. Und natürlich blieben viel zu viele Menschen mit Beginn des Vereinigungsprozesses auf der Strecke. Zahlreiche Biografien erlebten einen schweren Bruch. Plötzlich wurden viele nicht mehr gebraucht. Fähigkeiten und Wissen von Fachleuten war nicht mehr gefragt. Ganze Branchen verschwanden von der Firmenlandkarte. Aber die Menschen waren deshalb nicht weg. Rund zwei Millionen Bürger verließen ihre Heimat und zogen gen Wesen, um dort eine Zukunft zu finden.
Der einstige Staats- und Partei- und Sicherheitsapparat war schnell abgewickelt, aber in welchen Bereichen fanden die Mitarbeiter dieser Institutionen eine Aufgabe? Irgendwann stand eigentlich jeder Ossi vor den Fragezeichen zur eigenen Zukunft. Die neuen Bedingungen zerschnitten Lebenswege und brachten gleichsam Chancen mit. Zugreifen musste jeder selbst. Zu vielen gelang dies sicher nicht. Vielleicht ahnten sie Möglichkeiten, hatten aber nicht den Mut sie auszufüllen oder scheiterten möglicherweise zu schnell.
Dieser nicht sichtbare Persönlichkeitswandel der Ostdeutschen ist eine ebenso große Leistung, wie der Neubau und die Sanierung der Lebensräume. Nur spricht darüber kaum jemand. Vergessen werden darf auch nicht, dass vielleicht ein Viertel oder gar mehr Menschen den Sprung in ein neues, selbstgestalterisches Leben nicht geschafft haben. Diese Biografien sind in der Anzahl und ihrem his-torischen Typus eine ostdeutsche Einzigartigkeit. Genauso wie es als Einheitsfolge heute Kinder gibt, die als Berufswahl „Hartz IV“ angeben, weil sie ihre Eltern nie in Arbeit erleben konnten.
Diese kaum messbaren, tiefgreifenden, psychischen Transformationen und deren Folgen, aber auch die Lebenserfahrungen aus DDR-Zeiten, schenken dem hiesigen Menschenschlag in seiner Gesamtheit eine außergewöhnliche Differenzierung in den Bewertungen. Angemessene System- und Lebensvergleiche kann nur vornehmen, wer in solchen Milieus auch wirklich gelebt haben. Die junge Einheits-Generation kann diese Deutungserfahrungen gar nicht mehr nachvollziehen. Vielleicht wären diese ostdeutschen Sichtweisen und Lebenserfahrungen nach wie vor ein wertvolles Gut im gesamtdeutschen Miteinander.
Die politische Klasse – egal, welcher Farbe – sei darauf aufmerksam gemacht, dass sie in ihrem Sprachgebrauch ausgesprochen oft auf eigene Erfolge ihrer Politik verweist. Es wird vergessen, dass Politik einzig über Verteilungsmöglichkeiten entscheidet, die auf das erzeugte gesellschaftliche Vermögen der Bürgerinnen und Bürger bauen. Die Leistungen der gesamten Gesellschaft erbringen alle Deutschen, die als nützliche Mitglieder daran mitwirken. Politisches Klopfen auf eigenene Schultern wird im Osten mit einer viel größeren Sensibilität wahrgenommen. Möglicherweise schlummert in den politischen Reden eine Mitverantwortung für die Kritik und Skepsis der Bürger. Manchmal klingen das gemeinschaftliche Nörgeln, als käme es von einem undankbaren Volk.