Die Szene hatte etwas leicht bizarres, andererseits fast schon amüsantes: Da trafen sich Vertreter beider deutscher Ruderverbände, ganz unkompliziert, in den Nachwende-Tagen auf einem Autobahn-Rastplatz. Wie Wochenend-Ausflügler.
Man schüttelte einander die Hand, stellte sich vor und ging an die Arbeit. Es waren jene Tage, in denen der Sport West und der Sport Ost zusammenwuchsen. Viele Verbände, so wie die Ruderer, fanden mit spielerischer Leichtigkeit zueinander.
Für Sportfunktionäre und Politiker – in West wie in Ost – galt das als Beweis von vielen für ihre damals demonstrativ vor sich hergetragene These: Kein gesellschaftlicher Bereich hat die deutsche Vereinigung besser und vor allem schneller gemeistert als der Sport. Weil, so lautete eines der Hauptargumente, die Leibesübungen ja eigentlich schon immer mehr Gemeinsames denn Trennendes ausmachten. Die Freude an der Bewegung, am fairen körperlichen Kräftemessen nämlich, unabhängig von gesellschaftlichen Systemen. Jetzt, wo die hinderliche Mauer endlich weg war und die Aufnahme der DDR in die Bundesrepublik unmittelbar bevorstand, waren also endlich die Bremsklötze beiseite geräumt und angeblich der Weg frei für einen gemeinsamen deutschen Sport.
Auf den ersten Blick sah es tatsächlich so aus. Aber auch auf den zweiten? Die reinen Fakten sprechen zunächst eine deutliche Sprache. Schon am 17. November 1989, kurz nach dem Mauerfall, verkündeten in Berlin der Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), Klaus Eichler, und der Kollege West, Hans Hansen, vom Deutschen Sportbund (DSB), dass sich der Sportverkehr in Deutschland fortan frei entfalten könne. Und in der Tat: Nicht nur in den grenznahen Regionen florierten fortan die Wettbewerbe. Hier wuchsen, ganz im Sinne des Brandtschen Satzes, wonach jetzt zusammenkam, was zusammengehörte, relativ schnell neue Strukturen. Unbenommen davon wurden in wichtigen Mannschaftssportarten wie Fußball und Handball die höchsten DDR-Ligen bis zum Sommer 1991 fortgeführt. Egal ob Bob- und Schlittenfahrer, Tischtennisspieler oder die Schachfreunde, die Vereinigung der Verbände schritt schleunig voran. Es war der Wernigeröder Bürgermeister Martin Kilian, der als letzter Präsident des DTSB am 15. Dezember 1990 dann formell den Beitritt seiner Organisation zum DSB vollzog.
Hinter dem zunächst so komplikationslos ausschauenden Prozess steckten, das wurde schnell klar, handfeste Interessen. Dass plötzlich die besten Ostfußballer dem Ruf des Geldes und gewiefter Manager folgten und über Nacht bei Westvereinen anheuerten (Trainer-Legende Eduard Geyer später: „Es ging zu wie auf dem Sklavenmarkt“), mag noch als eine Petitesse der Vereinigung weggehen. Ebenso wie der Beckenbauer-Spruch nach dem Gewinn der Fußball-WM 1990 durch das Team der BRD, wonach Deutschland, ergänzt durch die Akteure der Ex-DDR, auf Jahre unschlagbar sein werde. Viel wichtiger war etwas anderes: Seit der Vereinigung träumten Politiker und Funktionäre davon, dass Deutschland die führende Sportnation der Welt würde. Die Formel dafür las sich denkbar einfach: Das Geld des Westen, plus das Knowhow des Ostens.
Wenn man so will, passierte hier etwas Einmaliges. Der Sport der DDR hatte wohl als einziger Sektor etwas Handfestes zu bieten. Während alle anderen Bereiche abgewirtschaftet hatten, war man im Sport dem Westen überlegen. Bei Olympia 1988 in Seoul gewann die kleine DDR 102 Medaillen, die große BRD gerade einmal 40.
Der Osten war stolz darauf, Weltklasse in die Einheit einzubringen. Verbunden damit war bei Trainern und Wissenschaftlern die Hoffnung, dass die akute Frage, wie lange die klamme DDR im finanziell immer aufwendiger werdenden materiellen Wettrüsten im Weltsport noch mithalten konnte, nun positiv beantwortet werden würde. An der Basis keimten gleichfalls Hoffnungen: Es würde endlich vorbei sein, so dachte man, mit den maroden Sportanlagen, mit den immer häufiger abgelehnten Ersuchen, die baufälligen Sporthallen und Trainingsplätze zu rekonstruieren. Gewiss, da passierte einiges. Aber das materielle Elend war einfach zu groß. 24,8 Milliarden Mark, so ergab eine Hochrechnung, wären notwendig gewesen, um die DDR-Sportstätten zu erhalten. Das war auch für eine gewiss reiche Bundesrepublik nicht zu leisten. Eine weitere Kehrseite: Die Zahl der Trainer und Übungsleiter, einst vom Staat alimentiert, ging in erschreckendem Maß zurück. Viele Betriebssportgemeinschaften taumelten dem Abgrund entgegen.
Der Westen wiederum freute sich auf große Siege. Gutausgebildete Trainer und Athleten, so dachte man, würden Deutschland auf Jahre in allen Medaillenstatistiken unschlagbar machen. Deshalb ließ die Politik den Sportfunktionären weitgehend freie Hand. Man schaute nur auf die Rahmenbedingungen. Ein Beispiel: Als Cordula Schubert, die letzte Sportministerin der DDR, die Fördergelder für den Leistungssport streichen wollte, pfiff Bonn sie zurück. Der für die Leibesübungen zuständige Innenminister Wolfgang Schäuble erklärte er ihr, man habe andere Pläne.
Die Ernüchterung folgte aber auf dem Fuß. Als nämlich die dunkle Seite des DDR-Sports auftauchte, dokumentiert in unzähligen Akten und Aussagen von Betroffenen: die Stasi-Verstrickungen von Sportlern und Trainern, das staatlich organisierte Doping. Als es um deren Aufarbeitung ging, wurde in den Verbänden oft weggeschaut, halbherzig gehandelt. Wichtig war das Wissen der Fachkräfte aus dem Osten. So verwundert es nicht, dass die Freude über das einige Sportland recht schnell verflog, das deutsch-deutsche Märchen bald ausgeträumt war.
Auch im nunmehr gesamtdeutschen Hochleistungssport setzte allmählich ein Sinkflug ein. Profitierte der gesamtdeutsche Sport bei Olympia 1992 in Barcelona und auch vier Jahre später in Atlanta noch vom Erbe der im DDR-System aufgewachsenen Athleten, ging es später Stück für Stück bergab. Die fast schon unheimlich anmutenden Dimensionen des DDR-Sportapparats waren, so die ernüchternde Erkenntnis, einfach nicht aufrechtzuerhalten.
Eines jener Lieder aus dem untergegangenen Staatsgebilde Ost schien dem gesamtdeutschen Sport anfangs geradezu auf den Leib geschrieben zu sein: „Venceremos, wir werden siegen …“ Schaut man sich heute die Entwicklung (einschließlich der Resultate bei Olympia, Welt- und Europameisterschaften) allerdings nüchtern an, muss man sagen: wohl eher nicht. Rudi Bartlitz