Gesungene Geschichte. Hautnah, ohne Orchestergraben. Das Theater Magdeburg inszeniert das Leben der Anne Frank. Dargestellt und gesungen von Irma Mihelic.
Von Birgit Ahlert
Wie ein Vogel ohne Flügel fühlt sie sich. Was für ein Leben! Sie möchte raus, hinaus in die Welt. Ist voller Energie. Voller Fantasie. Überbordend. Doch der Weg ist versperrt. Wer kann sich das vorstellen – mit 13 Jahren, lebenslustig und -hungrig, eingesperrt zu sein? Die Welt der Anne Frank beschränkt sich auf ein Leben zwischen doppelten Wänden. Statt erster Liebe Angst und Stille. Davon berichtet sie ihrem einzigen Vertrauten, ihrem Tagebuch. Das hat das Mädchen zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt bekommen. Es wird zu ihrem Lebens-
elexier und später bekannt als eines der berührendsten Zeitdokumente über die Schrecken der Shoa. Veröffentlicht von ihrem Vater, stellvertretend für die Tochter, die Schriftstellerin werden wollte. Das Leben der Anne Frank. Heute Weltliteratur. Das hätte sie gefreut. Doch erlebt hat sie es nicht. Anne starb 15-jährig im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Vergangenheit, die nicht vergessen werden darf. Nur wer die Geschichte kennt, kann Lehren daraus ziehen.
Und so wird 70 Jahre später das Leben der Anne Frank auf die Theaterbühne gebracht. In experimenteller Form. Als Mono-Kammeroper, ohne Orchestergraben, direkt am Publikum, erkärt Sebas-tian Gruner, der Regie führt, wie bereits zuvor bei der Kinderoper „Nabucco“. Ein ähnliches Publikum auch diesmal: Empfohlen für Zuschauer ab 12 Jahre. Die werden mitten im Geschehen sein, kündigt Gruner an. Dadurch entsteht eine „eigene Energie“. Auf der Probebühne erarbeitet er mit Irma Mihelic das Stück, geht mit ihr die Schritte durch, übt Handbewegungen, Haltungen und natürlich Töne. Es ist das erste Einpersonenstück der Sopranistin, die sich mit dieser Inszenierung als neues Ensemblemitglied dem Magdeburger Publikum vorstellt. Geboren in Slowenien, studierte sie in Graz, schloss mit Auszeichnung ab und gewann u.a. beim internationalen Gesangswettbewerb „Klassik Mania“, trat beim Styriarte-Festival, in Graz und in den USA auf. Sie sang an der Staatsoper Stuttgart, bevor sie nach Magdeburg wechselte. Hier wird sie auch als Gretchen in Lortzings „Wildschütz“ zu erleben sein, später in „Hänsel und Gretel“ und als Juliette in „Die tote Stadt“.
„Anne Frank“ ist eine völlig neue Herausforderung für Irma Mihelic. Das Libretto orientiert sich detailgenau an den Berichten des jungen Mädchens. Die Handlung beginnt mit dem 13. Geburtstag, mit einer Feier und Ausgelassenheit. In ihrer Darstellung wird die 30-Jährige zum Teenager, lacht, tänzelt, bewegt sich unbefangen.
Szenenwechsel. Aus Lachen wird Verzweiflung. Von „Stunden voll unheimlicher Angst und Stille“, singt Anne/Irma und „Ich weiß wohl, dass es keine Antwort gibt“. Angst. Antwort. Abgrund. Worte finden aus ihrer Stimme an die Wand, bringen Verzweiflung nah. Dann wieder Lachen. Widersprüchliche Gefühle. Widersprüchlichkeit auch in Musik und Gesang, die ihr Eigenleben entfalten. Während die Sopranistin ihre Melodie findet, gibt es Achtungspunkte im konträren Klavierspiel (Anna Grinberg), die sie nicht verpassen darf. Eine große Konzentrationsleistung. Dabei leichtfüßig wie ein junges Mädchen das Spiel auf der Bühne gestalten – eine Herausforderung! Fällt es ihr schwer, sich in die Rolle der Anne Frank zu finden? Irma Mihelic verneint: „Anne war ein lebenslustiges Mädchen, und ich glaube, wir waren uns mit 13 sehr ähnlich.“ Dass sie dann so ein tragisches Schicksal erlitt, macht die Künstlerin betroffen. Diese Betroffenheit bringt sie in die Rolle ein, lässt Angst und Trauer fühlen, macht Wünsche und Träume nachvollziehbar.
Zu erleben ist Irma Mihelic als „Anne Frank“ auf der Podiumbühne im Opernhaus ab 15. Oktober.
Das Tagebuch der Anne Frank
Mono-Oper in vier Szenen. Von Grigori Frid.
Libretto vom Komponisten auf der Grundlage
des Original-Tagebuchs der Anne Frank.
Für Schülerinnen und Schüler sind auf Wunsch
ein szenischer Einführungsworkshop und ein
Nachgespräch möglich.