Der Austritt von Lutz Trümper aus der SPD erscheint zunächst als mutiges Signal, offenbart aber tatsächlich einen tiefer werdenden Riss durch die Gesellschaft.
Von Thomas Wischnewski
Als Oberbürgermeister Dr. Lutz Trümper am 14. Oktober seinen Austritt aus der SPD erklärte, löste er ein kleines politisches Erdbeben aus. Für ein paar Tage bestimmte sein konsequenter Schritt die mediale Aufmerksamkeit. Der Magdeburger OB tauchte in Zeitungsinterviews, einer ZDF-Politik-Talkshow und zahlreichen anderen Veröffentlichungen auf. Die Grundbotschaft seiner Entscheidung mündete in die Formulierung: „Mir wurde nahegelegt, meine Meinung nicht zu sagen.“ Und seine Kritik schüttete er über der SPD-Landesspitze mit deren Galionsfigur Katrin Budde aus. Der breite Meinungstenor zollte Lutz Trümper Respekt. Als eine mutige Tat wurde sein Parteiaustritt vielfach angesehen. Aber seine Reaktion ist mehr, nämlich längst ein festes Indiz für einen Riss, der durch die Gesellschaft geht.
Die Eskalation, die zwischen Katrin Budde als SPD-Landeschefin und Lutz Trümper als Verwaltungsoberhaupt der Landeshauptstadt entstand, zeigt zunächst Diskrepanzen auf unterschiedlichen Handlungsebenen. Als OB ist Trümper täglich und stündlich mit den sehr konkreten Aufgaben zur Flüchtlingsunterbringung und -versorgung konfrontiert. Die Nähe zu Herausforderungen und Schwierigkeiten ist eine andere, als die interpretierte und konzeptionelle durch die Landesbrille. Es sei Katrin Budde nicht unterstellt, dass sie verbalisierte Probleme nicht erfassen könnte. Doch zu glauben, vorwiegend durch entgegengenommene Berichte und Schilderungen oder mit wenigen kurzen Besuchen an Stellen, an denen die Aufgaben ununterbrochen real anfallen, der tatsächlichen Dimension einer derart komplexen Wechselwirkung mit fertigen, politischen Antworten begegnen zu können, ist kurzsichtig. Außerdem mögen im Streit zwischen Budde und Trümper auch Persönlichkeitsmerkmale sichtbar werden. Beide Akteure sind seit über 25 Jahren politisch aktiv und sehr lange in verantwortungsvollen Positionen tätig. Unter solchen Bedingungen reifen Selbstbewusstsein und Dominanz. Derartige psycho-dynamischen Prozesse können das Finden einer gemeinsamen Lösung erschweren. Jens Rösler, SPD-Fraktionschef im Magdeburger Rathaus, meint, Trümpers Parteiaustritt würde weniger an einer inhaltlichen Diskrepanz zwischen beiden festzumachen sein, sondern mehr auf einer persönlichen Ebene. In dieser Einschätzung schwingt eher oberflächliche Beschwichtigung mit als die tiefere Erklärung über eine gesellschaftliche Entwicklung.
Nach Lutz Trümper erntete auch der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer von der Partei Bündnis 90/Die Grünen, von vielen Seiten harsche Kritik, weil er wie sein Magdeburger Amtskollege einschätzt, dass gängigen Regeln und vorhandene Ressourcen an Unterkünften und verwaltungstechnischen Möglichkeiten nicht ausreichen, um dem politischen Willen zur Meisterung des Flüchtlingsaufkommens gerecht zu werden. Was bisher als Flüchtlingskrise bezeichnet wurde, wächst längst in eine Krise der staatlichen Organisation hinein. Auf Bundes- und Landesebene will man Lösungen einfordern, aber die kommunale Verwaltungsbasis sieht sich der Anforderungsbreite dieses höheren politischen Willens und den tatsächlichen Flüchtlingszahlen nicht gewachsen.
Wer das nicht sehen oder gar verschweigen will, setzt sich entweder zu wenig mit der Realität auseinander oder haftet zu sehr an gesellschaftspolitischen Forderungen nach Unterstützungsleistungen. Die Auseinandersetzungen auf unterschiedlichen politischen Ebenen mag ein Problem dieser Wochen und Monate sein, ein anderes ist die sich weiter polarisierende Stimmung im Land. Noch radikalisieren sich vor allem Meinungen. Die PEGIDA-Bewegung in Dresden demonstriert mit zugespitzten Botschaften, die sogar schon gewaltfördernde Tendenzen aufweisen. Die Galgen-Symbole für Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren Vize Sigmar Gabriel sind ein Ausdruck dafür. Die Regierung reagiert indes mit staatsanwaltschaftlicher Verfolgung. Eine Bewegung provoziert Regierungsvertreter dazu, mit der Staatsmacht zu drohen. Über diese Entwicklung muss sich Sorge ausbreiten. Die Menschen, die in Dresden und mittlerweile auch in Erfurt zu mehreren Tausend auf die Straße gehen, können offenbar mit politischen Argumenten nicht mehr erreicht werden. Deren bisherige Stigmatisierung und Diskreditierung hat sie nur temporär geschwächt. Und natürlich klebt am Räderwerk dieser Bewegung auch eine Klientel, der extremistische Gesinnungen zum geistigen Grundgerüst anhaften. Deren erklärte Feinde aus einem gewaltbereiten Linksspektrum formieren sich als wachsende Gegenbewegung.
Längst läuft eine zunehmende Deklaration dazu, wie dieser Zuwanderungsgegnerschaft und deren überhöhten und teils hasserfüllten Wortwahl zu begegnen sei. Der Staat soll konsequent mit Verfolgung drohen. Erfüllte Straftatbestände müssen vor einem Richter landen. Das ist in der juristischen Logik geboten und korrekt, aber politisch ist es leider auch ein Zeichen dafür, dass nicht jedes gewollte Regierungskonzept die nötige Akzeptanz erfährt, geschweige denn ein unterwürfiges Hinnehmen.
Vielleicht offenbart die wachsende gesellschaftliche Spaltung über diesen großen Flüchtlingszustrom das bisherige Defizit an Plebisziten. Kein Unternehmen, kein Verein, keine Familie oder welche gesellschaftliche Gruppe auch immer kann eine größere Zahl an Menschen aufnehmen, die zunächst nur zu versorgen sind, ohne über die eigene Aufnahmebereitschaft und mögliche Leistungsgrenzen zu diskutieren. Würden solche Entscheidungen nicht einfach verordnet werden, sondern in Mehrheitsbeschlüssen sichtbar, entstünde ein ganz anderer Rückhalt und viel mehr Orientierung bei der Problemlösung. Spätestens seit der Gewissheit, dass die Zahl der flüchtigen Menschen aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika eine Dimension in Millionenhöhe erreicht, wäre es nicht nur demokratisch geboten gewesen, den Mehrheitswillen des Souveräns zu erfahren, ob die Gemeinschaft, die Unterstützungsherausforderung annehmen und leisten will. Die nun weiter eskalierende Auseinandersetzung unter den Deutschen, die unweigerlich eine Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft fördern wird, wäre sehr wahrscheinlich vermeidbar gewesen. Hätte eine deutliche Mehrheit bei einem Volksentscheid beispielsweise erklärt, dass der Staat höhere finanzielle Anstrengungen aufnehmen sollte, um die Gegebenheiten zu meistern, könnte niemand eine andere Meinung als Volksmeinung deklarieren. Doch genau das geschieht derzeit und dieser Trend wird weiter zunehmen, weil es in der Dimension der Aufgabe keine Orientierung durch die Wähler gegeben hat. Die deutsche Regierungspolitik zeigt in der Flüchtlingskrise stattdessen autokratische Züge. Deshalb ist eine Gefahr für weitere gesellschaftliche Risse nicht ausschließlich mit konträren Demonstranten aus Dresden zu erklären. Man muss schon das Spiel aller Kräfte berücksichtigen, um sich ein angemessenes Bild von den aktuellen Bewegungen machen zu können. Deshalb hilft es auch jetzt niemandem, rechte und linke politische Seiten zu definieren.
Im Prinzip ist die politische Aufteilung des Lebens in die drei Bereiche „Mitte“, „Links“ und „Rechts“ völlig wirklichkeitsfremd und überholt. Je gröber die Unterscheidung, um so brutal einfach die Einordnung über Menschen und ihr Verhalten. Wer andere in eine Schublade steckt, muss auch die eigene sehen, aus der heraus er urteilt. Was jetzt vor allem in den sogenannten sozialen Netzwerken des Internets weitergehen wird, sind Anfeindungen, noch mehr Standpunktabgrenzungen, gegenseitige Argumente verlieren weiter an inhaltlicher Bedeutung und Hetze provoziert Gegenhetze.
Zurück nach Magdeburg: Lutz Trümper erklärte im Nachgang seines SPD-Austrittes, dass er der Landespartei, die sich im März zur Wahl stellen will, nicht schaden wolle. Seine Äußerungen über die Asyl- und Flüchtlingspolitik wären überzogen und könnten der Spitzenkandidatin Katrin Budde im Wahlkampf schaden. Das soll man ihm vorgeworfen haben. Nur hat das Trümper-Signal vorerst noch mehr Schaden angerichtet, weil Führungsstil und politische Asyl-Konzeption weiter infrage gestellt werden. Für den Magdeburger Oberbürgermeister ändert sich mit der Abgabe des Parteibuchs an den täglichen Aufgaben vorerst nichts. Er kann die Flüchtlingszuteilung nach Magdeburg nicht begrenzen, muss weiter die Verwaltungsleis-tungen in diesen Fragen organisieren und garantieren, egal ob ihm das passt oder nicht. Im Internet forderte gar eine Kommentatorin: „Eier hat er erst wirklich in der Hose, wenn er den sogenannten Flüchtlingsstrom in seiner Stadt endgültig stoppt…“ Auch an solchen Forderungen wird deutlich, welchen Riss mangelndes Wissen erzeugen kann. Ein OB hat weder Polizeigewalt noch könnte er Grenzkontrollen zur Stadt einführen.
Entscheidungen im Stadtrat im Sinne der Verwaltung oder nach Ansichten von Lutz Trümper selbst herbeizuführen, wird für den Oberbürgermeister in Zukunft nicht einfacher. Wenn SPD-Fraktionschef Jens Rösler auch bekundet, dass seine Partei den OB auch weiter sachlich in allen Fragen begleiten will, so lässt er auch verlauten, dass nicht mehr jede Abstimmung so einfach sein würde. Ließe man heute noch einmal über den Tunnel am Bahnhof abstimmen, würde die Mehrheit eine andere sein, sagt Rösler. Der Satz gibt einen kleinen Vorgeschmack, dass nun mehr Sand im Getriebe zwischen Stadtrat und Verwaltung knirscht. Vielleicht geht sogar ein erster kleiner Riss durch das kommunale Gremiengefüge. Jede Entscheidung für den einen oder anderen Weg bringt Unbalance. Lutz Trümpers Schritt hat einerseits aufgerüttelt und angestaute Luft aus dem Kessel der Bewertungen gelassen. Die Probleme zur Bewältigung des Geschehens sind damit nicht gelöst, auch für den OB selbst nicht.