Zielsicher: Jens Härtel

060814_Jens_Haertel2Wie Trainer Jens Härtel den 1. FC Magdeburg auf Erfolgskurs brachte.

Von Rudi Bartlitz

Dass Fußballtrainer eine Spezies der ganz besonderen Art sind, wusste man seit langem.

Was allerdings in den letzten Wochen mit dem als „Kloppomania“ in die modernere Kicker-Historie eingegangenem Wechsel des Dortmunder Kulttrainers Jürgen Klopp zum FC Liverpool oder  der Verpflichtung von Stefan Effenberg beim FC Paderborn in der deutschen Balltreter-Szene passierte, markierte wahrhaft neue Dimensionen. Da wimmelte es nur so von Wortspielen wie  „the normal one“ (der Normale/Klopp) gegen „the special one“ (der Besondere/Mourinho)  bis zu  „the new one“ (der Neue/Effenberg). Alles vergleichbar nur noch mit dem Hype einst bei der Guardiola-Unterschrift in München.
Ist es inzwischen also wirklich so, dass es nicht mehr ausreicht, wenn der Mann an der Seitenlinie ein kenntnisreicher Fachmann, ein guter Pädagoge, ein kluger Stratege und ein feinsinniger Kommunikator – eben ein moderner Trainer – ist?  Und ein Stiller obendrein? Braucht es als Coach inzwischen wirklich den schillernden Exoten, den spaßigen Selbstdarsteller, nie um einen flockigen Spruch verlegen? Natürlich nicht.
Ein Gegenbeweis ist seit fast eineinhalb Jahren regelmäßig in der hiesigen  MDCC-Arena zu besichtigen. Sein Name: Jens Härtel. Seine Funktion: Cheftrainer des aufstrebenden 1. FC Magdeburg. Sein Verdienst: Vater des Magdeburger Sommermärchens 2015, des Aufstiegs der Blau-Weißen in den Profifußball nach über zwei Jahrzehnten in den lähmenden Niederungen des Amateurlagers.
Wer ist also dieser Jens Härtel, der in seiner ruhigen, oft in sich gekehrten Art so gar nicht den landläufigen Vorstellungen eines modernen Coachs nahekommt? Um in der branchenüblichen Sprache zu bleiben: Wie tickt er? Wie denkt er über den Fußball, über die Rolle des Trainers?
Als sich Magdeburg Kompakt in diesen Tagen mit dem 46-Jährigen traf, signalisierte schon das nüchterne Gesprächsumfeld: Hier wird auf jeden Schnickschnack, jeden Schnörkel verzichtet, hier wird Fußball hart gearbeitet. „Ja“, bestätigt Härtel, „ich würde mich schon als harten Arbeiter bezeichnen,  der seine Aufgaben mit Realismus und Zielstrebigkeit angeht.“  Da ist es zum ersten Mal, dieses Wort „zielstrebig“, das wohl treffend wie kein anderes seine Berufsauffassung umschreibt – einst als Spieler wie später als Coach.
Als Spieler („Mich konnte man im zentralen Defensivverbund eigentlich überall einsetzen. Nur auf der Außenbahn nicht, da war ich zu langsam“) brachte es der Sachse aus Rochlitz immerhin auf 91 Zweitliga-Begegnungen für den SV Babelsberg und den FSV Zwickau. „Schon damals haben mir meine Zielstrebigkeit und mein Ehrgeiz sehr geholfen“, erinnert sich Härtel. „Einige mit denen  ich damals zusammen gespielt habe, waren talentierter als ich, aber in die zweite Liga hat es keiner so recht geschafft.“ Wollte man es in Schlagworte fassen, so könnte man sagen: Wille triumphiert also über Talent. Der Coach denkt kurz nach: „Ja, da würde ich in den meisten Fällen mitgehen. Oder andersherum: Mentalität schlägt Qualität! Mit Willen kann man immer noch einige Prozent  Leistung dazugewinnen.“ Es sind Maxime wie diese, die ganz offenbar den heutigen Trainer und seine Arbeitsweise charakterisieren. Die dem Außenstehenden viele Maßnahmen  Härtels vielleicht besser verstehen lassen. Und noch etwas zeichnete den Mann, der in seiner aktiven Laufbahn u.a. das Trikot von  Chemie Böhlen, Lok Leipzig, Sachsen Leipzig, Union Berlin und eben Babelsberg und Zwickau trug, aus: „Ich habe schon als Aktiver oft wie ein Trainer gedacht.“ Sicher kein Nachteil für den späteren Job.
Dennoch, einfach und schnurgerade war der Weg zum Cheftrainer des FCM für den gelernten Kfz-Schlosser und späteren Einzelhandelskaufmann keineswegs. „Als Co-Trainer in Babelsberg wurde mir nach finanziellen Schwierigkeiten des Vereins plötzlich der Stuhl vor die Tür gesetzt und gesagt:  ‘Geh zum Amt.‘“ Zuvor allerdings hatte er die Zeit genutzt, um auf eigene Kosten (!) in einem zehnmonatigen Lehrgang die Lizenz zum Fußballlehrer zu erwerben – gemeinsam u.a. mit den späteren Bundesliga-Coachs Markus Weinzierl (Augsburg), Markus Gisdol (Hoffenheim), Roger Schmidt (Leverkusen) und Tayfun Korkut (Hannover). Und dann sagt Härtel noch einen Satz, der aufhorchen lässt: „Ich bin Christ. Das hilft mir, die Dinge zu relativieren.“
Trotzdem: Da stand er nun, der zweifache Familienvater, ohne Job.  Die einzige Chance bot ihm seinerzeit Regionalligist Berliner AK. Wahrlich keine Top-Adresse. Doch gerade mit diesem Underdog aus Liga vier machte Härtel Schlagzeilen, als er im DFB-Pokal den Erstligisten Hoffenheim spektakulär mit 4:0 aus dem Wettbewerb schoss. Es war, so befanden Beobachter, zuallererst ein taktisches Meisterstück des Trainers. In der Szene blieb das nicht ohne Resonanz, und das Angebot des Brauseklubs RB Leipzig folgte auf dem Fuß.
Für den Coach war die Arbeit beim umstrittenen Sachsen-Klub durchaus interessant. „Ein Engagement in einem Nachwuchsleistungszentrum fehlte mir noch, da hatte ich Lust, das auszuprobieren“, erzählt er heute. Trotz sportlicher Erfolge wie dem Aufstieg der  A-Jugend in die Bundesliga folgte nach einem Jahr die Trennung: „Im zwischenmenschlichen Bereich hat es geknackt und geknirscht. Das muss ich nicht haben. Alles wird dort dem Erfolg untergeordnet. Es fehlt die menschliche Wärme.“
Und so fügte es sich, dass just in jener Zeit ein gewisser Mario Kallnik anfragte, ob er sich vorstellen könne, nach Magdeburg zu wechseln. „Es gab zwei, drei Gespräche, dann waren wir uns einig.“ Nach mehreren Missgriffen in Sachen Fußball-Lehrer blieb, als der Name Härtel bekannt wurde, überbordende Begeisterung beim FCM-Anhang zunächst einmal aus. Und richtig, nach einem passablen Start schlitterte der Klub mit vier Niederlagen nacheinander  in eine richtige Krise. Die Spieler verstehen nicht, wurde getuschelt, was der Trainer eigentlich will, der erreicht die Mannschaft nicht. Härtel: „Da gab es die volle Breitseite. Es wurde ungemütlich.“
In jener Zeit geschah etwas, was sich im Haifischbecken bezahlter Fußball nicht allzu oft ereignet: Die Führung stand uneingeschränkt zum Coach. Der mächtige Manager Kallnik, so wird kolportiert, soll sogar gesagt haben: Bevor wir uns vom Trainer trennen, holen wir  eher neue Spieler, die verstehen, was er will. Härtel räumt heute ein: „Auch  ich musste meine Ansprüche ein wenig  modifizieren.“ Aber von einem Anspruch ging er nicht ab: „Auch wenn die Tradition hier  groß ist“, sagte er seinen Spielern, „wir dürfen nie vergessen, im Augenblick sind wir nur vierte Liga. Wir als Mannschaft müssen liefern, in Vorleistung gehen.“ Irgendwann war der Knoten tatsächlich geplatzt. Der Rest ist schnell erzählt: Der FCM wurde Sieger in der Nordost-Staffel und bezwang in den Relegationsspielen zur dritten Liga in einem Parforceritt ohnegleichen zweimal die favorisierten Offenbacher Kickers. Eine ganze Region lag sich in den Armen, feierte den Aufstiegs-Helden Härtel.  Magdeburgs Fußball-Legende Achim Streich adelte ihn in der vergangenen Woche als „besten FCM-Trainer der letzten 25 Jahre“.
Auf Härtels Karriereleiter  war also ein weiteres Etappenziel abgehakt: erstmals Cheftrainer im Profifußball. „Das mag für den Außenstehenden so sein“, schränkt er ein. „Für mich beginnt der Profifußball dort, wo ich unter professionellen Bedingungen arbeiten kann. Und das war bei mir eigentlich seit 2007 der Fall.“ An seiner Philosophie vom Fußball hat sich auch unter den neuen Bedingungen in Magdeburg eigentlich wenig geändert. „Natürlich hängt das zuallererst davon ab, was man für Spieler zur Verfügung hat. Aber generell  bin ich für einen Fußball, der auf einem aggressiven Pressing beruht, wo der Ball schnell zurückerobert wird und möglichst lange in den eigenen Reihen gehalten wird. Ich plädiere zudem für ein schnelles Umschaltspiel, aus dem dann, wenn der Gegner noch nicht geordnet ist, Torchancen herausgearbeitet werden.“ Aber seine Vergangenheit als Defensivstratege  kann Härtel dann doch nicht ganz verleugnen: „Ich gebe zu, als früherer Abwehrspieler nehme ich nur ungern Tore hin.“ Und genauso agiert sein Team auch zuweilen.
Einen bestimmten Trainer als Vorbild nennt der schlanke, hochaufgeschossene Mann nicht: „Natürlich haben mich Männer wie Frank Pagelsdorf, Hans Meyer, Georgi Wassilew, Ede Geyer oder Gerd Schädlich mit geprägt. Von denen konntest du dir vieles abschauen. Bei anderen Dingen hast du gesagt: So machst du es nie. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, wo du sagst: Du musst deinen ganz eigenen Weg finden und ihn dann konsequent gehen.“  Und den geht er jetzt  mit den Blau-Weißen: ehrgeizig, konsequent, zielstrebig, wie es seinem Lebensmotto entspricht. „Es wird knüppelhart, die Klasse zu halten“, ist er sich sicher. Zuversichtlich  stimmt ihn, dass sein Team nach einem Drittel der Saison bewiesen hat, dass „wir konkurrenzfähig sind. Das haben wir zuletzt auch gegen Große wie Augsburg,  Leverkusen oder Dortmund gezeigt. Aus dem Stahlbad der Relegation sind wir gestärkt hervorgegangen.“
Geht es um seine weitere Zukunft als Trainer, bleibt er Realist – was sonst! „In der Champions League werde ich sicher nicht landen.“ Er lacht verschmitzt. Ein seltener Augenblick. Denn lachen sah man den Coach anfangs höchst selten. Das war etwas, was sie ihm in Magdeburg angekreidet haben: „Warum guckt der denn immer so ernst?“ Daran hat man sich inzwischen gewöhnt, genauso wie die Journalisten-Kollegen vom Boulevard, die einst stöhnten: „Der haut ja überhaupt keinen Spruch raus.“  Noch ist niemand auch auf die Idee gekommen, ihm einen – siehe Anfang – Kampfnamen anzuheften. Wie wäre es mit „The determined one“ – der Zielstrebige?
Spaß beiseite:   Einen Vertrag beim FCM besitzt Härtel jedenfalls bis zum Sommer 2016. Er verlängert sich automatisch um ein Jahr, sollte der Klub die Klasse halten. Für den Verein eine recht komfortable Situation. Findet auch der Trainer, um dann sofort hinzuzufügen: „Das geht schon in Ordnung, ich fühle mich hier gut aufgehoben.“  Was kann ein Realist auch anderes sagen …

Kompakt:

Jens Härtel wurde am 7. Juni 1969 in Rochlitz geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt heute in Michendorf bei Potsdam. Mit dem Fußballspielen begann er bei Chemie Großbothen. Von dort wechselte er zur Jugend von Motor Grimma und von dort weiter zum 1. FC Lokomotive Leipzig. Im Jahr 1989 schloss er sich Chemie Böhlen an und schaffte auf Anhieb den Aufstieg aus der DDR-Liga in die DDR-Oberliga. Später spielte er für den FSV Zwickau und mehrfach für den 1. FC Union Berlin sowie  den Zweitliga-Aufsteiger  SV Babelsberg 03. Härtel, der fast ausnahmslos in der Abwehr agierte, bestritt 91 Zweitliga-Spiele. Nach der Saison 2002/03 wechselte er zu Germania Schöneiche, wo er 2005 seine aktive Karriere in der Verbandsliga Brandenburg nach einer Verletzung beendete. In Schöneiche machte er auch seine ersten Schritte als Trainer. Über die Stationen Babelsberg (Co-Trainer), Berliner AK und RB Leipzig (Nachwuchs) kam er im Juli 2014 als Cheftrainer nach Magdeburg, wo mit dem FCM 2015 der Aufstieg in die dritte Liga gelang.

Goldene Trainerworte:

l FCM-Legende Heinz Krügel: „Der Spieler muss immer den Daumen seines Trainers an der Halsschlagader spüren.“
l Franz Beckenbauer (nach einer Bayern-Niederlage): „Ich bin immer noch am Überlegen, welche Sportart meine Mannschaft an diesem Abend ausgeübt hat. Fußball war’s mit Sicherheit nicht.“
l Lothar Matthäus: „Wir sind eine gut intrigierte Truppe.“
l Berti Vogts: „Wenn ich übers Wasser laufe, dann sagen meine Kritiker, nicht mal schwimmen kann er.“
l Berti Vogts (vor dem WM-Spiel gegen Kroatien): „Die Kroaten sollen ja auf alles treten, was sich bewegt – da hat unser Mittelfeld ja nichts zu befürchten.“
l Franz Beckenbauer:  „Berkant Öktan ist erst siebzehn. Wenn er Glück hat, wird er nächsten Monat achtzehn.“
l Ron Atkinson (Trainer des FC Liverpool):  „Ich wage mal eine Prognose: Es könnte so oder so ausgehen.“
l Franz Beckenbauer (über das WM-Finale 1990): „Damals hat die halbe Nation hinter dem Fernseher gestanden.“
l Frank Pagelsdorf: „ Wir werden nur noch Einzelgespräche führen, damit sich keiner verletzt.“
l Berti Vogts:  „Wir haben ein Abstimmungsproblem – das müssen wir automatisieren.“
l Volker Finke: „Ich habe zwei verschiedene Halbzeiten gesehen.“
l Friedhelm Funkel: „Die Situation ist bedrohlich, aber nicht bedenklich.“
l Ewald Lienen: „Ich habe ihn ausgewechselt, weil ich einen anderen Spieler einwechseln wollte. Da musste ich einen auswechseln.“
l Max Merkel:  „Spieler vertragen kein Lob. Sie müssen täglich die Peitsche im Nacken fühlen.“
l Giovanni Trappatoni: Fußball ist Ding, Dang, Dong. Es gibt nicht nur Ding.“
l Max Merkel (über seinen Schützling Friedl Koncilia): „Der sollte von der Innsbrucker Universität ausgestellt werden. Einen Menschen mit so wenig Hirn gibt’s ja net.“
l Giovanni Trappatoni: „Es gibt nur einen Ball. Wenn der Gegner ihn hat, muss man sich fragen: Warum!? Ja, warum? Und was muss man tun? Ihn sich wiederholen!“
l Dino Zoff (Italienische Torwart-Legende und späterer Nationalcoach):  „Es ist das Schicksal aller Trainer, früher oder später mit Tomaten beworfen zu werden.“
l Max Merkel:  „Im Training habe ich mal die Alkoholiker meiner Mannschaft gegen die Antialkoholiker spielen lassen. Die Alkoholiker gewannen 7:1. Da war’s mir wurscht. Da hab i g’sagt: Sauft’s weiter.“