Wenn sich einer von den Kindesbeinen schon längst „Erwachsen“ hat und trotzdem vorlaut, frech und renitent seiner Umwelt tierisch auf die Nerven geht, spricht die ältere Generation sehr oft von verfehlter Erziehung seitens des Elternhauses.
Diese Generation fasst das Vorlaute, die Frechheit und die Renitenz des Nichtmehrkindes konsequent mit dem kaum noch üblichen Vorurteil zusammen: „Der hatte aber keine gute Kinderstube!“
Soweit und nicht so gut. Weil, ich hatte auch keine „gute“ Kinderstube. Ich hatte nicht einmal eine „schlechte“ Kinderstube. Ich hatte gar keine Kinderstube. Also für mich allein. In der Kinderstube, in der ich Kind war, lebten noch zwei andere Kinder. Gut! Kinder ist vielleicht etwas übertrieben. Diese anderen „Kinder“ waren meine großen Brüder. Neun und acht Jahre älter als ich. Ein Generationenkonflikt war latent vorprogrammiert.
Immer wenn mich das „Ost- Sandmännchen“ im Verbund mit der sich sorgenden Elternschar rigoros ins Bett schickte, also gegen 19 Uhr, durften die „Großen“ noch länger aufbleiben. Länger Aufbleiben! So sagte man es damals in meiner Kindheit. Und länger „Aufbleiben“ wollte ich eigentlich immer. Dieses „Länger Aufbleiben“ gelang mir eigentlich immer am Montag der jeweiligen Woche. Warum? Montags 20 Uhr, im DDR- Fernsehen gab es immer einen „alten Film“ zu sehen. Und den durfte ich mit ansehen. Ich weiß nicht warum, aber ich denke heute, meine Mutti und mein Vati wollten mir Zugute kommen lassen, das was in ihrer Jugend „voll fetzte“!
Und ein weiteres Unterpfand des längeren Aufbleibens am Montag war der „Schwarze Kanal“. Karl-Eduard von Schnitzler erklärte uns im Ost-Fernsehen wie wir im Osten den Westen und das Westfernsehen zu sehen haben. Mein Vati war Gott sei Dank der Überzeugung, dass Überzeugung eines Heranwachsenden zum Guten nicht früh genug beginnen kann. Irgendwie bin ich Karl-Eduard von Schnitzler heute noch dankbar. Nein, nicht das Sie mich jetzt falsch verstehen. Dank ihm durfte ich eben länger aufbleiben. Aber dann ging es ab ins sogenannte „Dreikinderzimmer“ also in die „gute“ Kinderstube. Immer noch innerlich aufgewühlt von den Possen eines Hans Mosers und eines Theo Lingens und der ideologischen Entlarvung des stinkenden und faulenden Kapitalismus eines Karl-Eduard von Schnitzlers konnte ich natürlich nicht sofort einschlafen. Im Halbschlaf verdrehten sich die Gegebenheiten. Ich sah und hörte plötzlich Hans Moser, wie er Theo Lingen bezichtigte, ein Spion der Bonner Ultras zu sein und hörte wie Karl-Eduard von Schnitzel sich einen „Wiener“ Schnitzler bestellte und in der Wartezeit auf das Schnitzel das Lied von der „Reblaus“ sang.
Dann wollte mich der Gott des Schlafes Morpheus in seine Ruhe spendenden Arme nehmen. Aber ach! Auch „große“ Kinder müssen eben irgendwann zu Bett gehen. Heute weiß ich, was es bedeutet, wenn man sagte: Erfahrungsaustausch sei die billigste Investition. Meine großen Brüder wähnten mich längst schlafend. Aber ich war trotz Flüstertons der „großen Kinder“ wieder hell wach.
Ich erfuhr, dass Mädchen Jungs doch toll finden. Das konnte ich mir in meinem Alter damals gar nicht vorstellen. Auch ich war damals schon verliebt in ein Mädchen. Ich schrieb ihr im Unterricht einen Zettel. Darauf stand: Wennste mit mich gehen tust, kriste zwei Mark! Doch die doofe Zicke in meinem Alter sagte zu mir: Ich solle lieber Roller fahren! Aber ich hatte doch schon ein Fahrrad.
Die Intimitätsbeichten meiner großen Brüder wurden plötzlich immer detaillierter. Küssen mit „Zunge“ und so etwas. Das fand ich nun richtig eklig. Die eigene Zunge in einen fremden Mund stecken? Man hat doch nun wirklich seine Eigene. Dann aber flüsterten meine großen Brüder über die „erogenen“ Zonen eines Mädchens. Ich schnallte nicht einmal, was Zonen waren. Es ging wohl irgendwie um „Titten“. Heute weiß ich, dass es sich dabei um die Brüste der Frau handeln könnte.
Aber damals! Die, in die ich damals verliebt war, hatte noch keine Brüste. Nicht mal Titten! Das Gespräch meiner großen „Brüderkinder“ ging dann noch mehr in die „Tiefe“. Aber ich glaube, dass muss ich nicht mehr so genau schildern. Jedenfalls wusste ich nach diesem „Night- Talk“ meiner mir älteren Anverwandten genau, wie es geht. Natürlich erst einmal theoretisch. Was wollte ich eigentlich erzählen? Der Lebensraum „Kinderzimmer“ entlastet die, welche Kinder gezeugt haben oft und vor allem in meinem Fall, die Kinder, welche sie gezeugt haben, darüber aufzuklären, wie es mit der Zeugung eigentlich funktioniert.
Drum ein Dreifach Hoch auf die „Gute Kinderstube“. Los! Wollend werdende Eltern! Strengt euch an! Wir brauchen Kinder! Gute Kinderstuben sind ja heute vorhanden!
Herzlichst, Ihr Frank Hengstmann