Cafés, Restaurants, Kneipen, Tanzlokale, Musik- und Konzertsäle, Gast-häuser und Straßencafés – Magdeburg war einst eine Boomtown für gastronomische Konzepte und Orte zum Amüsieren für über 300.000 Menschen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts zählte man in Magdeburg keine 60.000 Einwohner (1849: 58.000). Unter der einsetzenden Industriealisierung wuchs die Bevölkerung rasant. 1882 übersprang die Stadt die Marke von 100.000. Bis 1890 verdoppelte sich die Zahl auf 200.000. Die Grenze von 300.000 wurde erstmals 1930 überschritten. Industriearbeitsplätze, Zucker, Getreide, Dünger- und Futtermittelproduktionen waren die eine Seite des Booms. Nach Berlin zählte die Stadt an der Elbe zum größten Güterumschlagsplatz Preußens. Parallel zur Wirtschaft entstand ein breites Freizeitangebot mit Kneipen, Cafés und Tanzlokalen. Vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts setzte ein regelrechter Gründerboom in der Gastronomie ein. Magdeburg war eine Metropole des Vergnügens und rangierte einst an 17. Stelle im Größenränking deutscher Städte. Im Leben vor Hundert Jahren gab es noch keine Fernsehapparate oder sonstige Heimelektronik für die Unterhaltung der Familie. Kinos kamen erst mit den 20er Jahren auf. Die typischen Freizeitvergnügen dieser Gründerzeit beschränkten sich aufs Ausgehen, mit gemeinsam Speisen und Trinken, sowie Treffen zum Tanz. Tanzsäle brauchten Platz für aufspielende Kapellen. Und die Männer trafen sich in unterschiedlichsten Vereinslokalen.
Der überlieferte Volksmund weiß, dass man es in dieser Boomzeit an einem Tag nicht geschafft hätte vom Hasselbachplatz bis zum Kaiser-Wilhelm-Platz (heute Universitätsplatz) in jedes Lokal einzukehren und ein Getränk zu nehmen. In der Altstadt zählte man damals allein 20 Hotels. 26 Säle für Kongresse, Ausstellungen und Festlichkeiten hatte die Elbestadt zu bieten. Der Admirals-Palast bot im Großen Saal 1.000 Menschen Platz, die Central-Halle 1.200 Personen. Im Konzert-Haus an der Leipziger Straße 62 konnten im Großen Saal 2.700 Besuchern Programm geboten werden. Der Luisenpark und der Festsaal des Wilhelma-Restaurants bot je 2.000 Menschen Platz zum Vergnügen oder später für Film- und Lichtbildvorträgen.
Die Landschaft der gastronomischen Konzepte war vielseitig wie nie. Übrigens kannte man schon Anfang des 20. Jahrhunderts vegetarische Restaurants und Lokale, die ausschließlich alkoholfreie Getränke anboten. Kaffee und Kuchen wurden nicht nur in unzähligen Cafés gereicht, sondern auch zur Selbstbedienung in Automatenlokalen.
Man ist geneigt, ein wenig wehmütig auf die Geschichte zu blicken. Und das nicht nur, weil die historischen Häuser, in denen die Gasthäuser ihr Publikum lockten, durch die Zerstörung der Stadt ausgelöscht sind, sondern auch, weil sich das Freizeitverhalten anscheinend so sehr in die private Sphäre hin zu TV und Heimelektronik verlagert hat. Das analoge Leben der „guten, alten Zeit“ hatte offensichtlich ein außergewöhnlich lebendigen Vergügungs-charme, trotzdem beispielsweise mein Großvater damals noch an sechs Tagen und bis zu 14 Stunden lang arbeitete. Im Konzert-Garten des Herrenkrugs konnten sich bis zu 12.000 Menschen einfinden. Die drei Gesellschaftsgärten des legendären Wilhelma-Restaurants boten insgesamt 10.000 Gästen Platz. die Aufzählung ließe sich vielfach fortführen. Magdeburg – das war einst ein Ort, an dem ein quirliges, facettenreiches Miteinander existierte. Berühmt war zu dieser Zeit auch schon das regionale Traditionsgericht aus Bötel und Sauerkohl. Die Elbestadt hieß deshalb auch Sauerkohl-Stadt, obwohl hier nicht von einem sauren Freizeitleben die Rede sein kann als viel mehr von vielen süßen Amüsements.
Thomas Wischnewski