Größte und künstlerisch wertvollste Orgel als atheistische Alternative zu den Sonntagsgebeten.
von Ludwig Schumann
Nein, die feine englische Art war das nicht, was sich die SPD-geführte Stadtregierung da ausgedacht hatte: Seit der Einweihung der neuen Orgel der Stadthalle zogen Sonntag für Sonntag 2000 Magdeburger auf die Insel Rotehorn, in die neuerbaute Stadthalle, um den Klängen der damals modernsten, versenkbaren Orgel Europas zu lauschen. Nein, nicht am Nachmittag. Die Stadthallen-Orgelkonzerte begannen, wenn Magdeburgs zahlreiche Kirchenglocken den 10-Uhr-Gottesdienst einläuteten. Den Schwarzröcken wollte man es schon zeigen, diesen Opium-für-das-Volk-Verteilern.
Eine Orgel einzubauen stand von Beginn der Planungen zur Stadthalle an zur Debatte. Fünf Monate nach Einweihung der Stadthalle am 29. Mai 1927 beginnt die mit dem Bau der Stadthallenorgel betraute Fa. W. Sauer Orgelbau Frankfurt (Oder), eine renommierte Orgelbaufirma in Deutschland, mit dem Einbau des Instrumentes. Eine Grundbedingung des Einbaus seitens des Stadthallenbaumeisters Johannes Göderitz ist, dass der Prospekt der Orgel die Funktionalität, die das Neue Bauen verlangt, und der Ästhetik des Raumes Rechnung tragen muss. Göderitz verzichtet demzufolge auf jeglichen Zierat und lässt stattdessen die Funktionalität die Ästhetik des Prospektes bestimmen.
In vier Geschossen ist die Orgel aufgebaut. Hinter der Holzverkleidung des Podiums stehen die Schaltapparate, die den Windstrom zu den Pfeifen regeln. Die Pfeifen füllen die drei oberen Geschosse. Der Mittelteil des Prospektes zeigt die Pfeifen offen. Interessant ist die Farbgebung: Die Prospektpfeifen sind schwarz poliert. Die mittig stehende Kontraposaune verfügt über schwarz polierte hölzerne Schallbecher, während sie am oberen Rand mit Weißblech eingefasst sind. Die Kästen der seitlichen Schweller sind blau, Klappen, Blasebalg und das innere Gerüst sind rot gehalten. Wobei die inneren Pfeifen beleuchtet werden, dass sie bei geöffneten Lamellen auch sichtbar sind.
Die Orgel der Stadthalle verfügt über 4 Manuale zu je 61 Tasten. Der 13 Zentner schwere Spieltisch ist versenkbar. Er steht 18 Meter von der Orgel entfernt. Auf diese Weise ist das Zusammenspiel von Orchester und Orgel gewährleistet.
Die Orgel verweist auf die seinerzeit ungeheuren Ingenieursleistungen: So erfordert die elektrische Traktur der Stadthallenorgel sage und schreibe 57 Kilometer Elektroleitungen, 9.850 Kontakte, 1.6800 Schraubenklemmen, 1.010 Elektromagnete. Zwei Schwachstrommaschinen erzeugen den elektrischen Strom. Die Stadthallenorgel verfügt aber auch über ein Fernwerk, das etwa 25 Meter von der Hauptorgel entfernt aufgestellt ist und als eigene Orgel fungieren kann. Insgesamt gilt die Magdeburger Stadthallenorgel als eines der größten, künstlerisch wertvollsten Instrumente seiner Art in Deutschland. Es heißt, sie sei „ein Markstein von bleibender Bedeutung auf dem Wege zur Entwicklung zur Orgel der Zukunft.“ Gedacht war die Stadthalle in der ursprünglichen Planung als Volkshaus mit einem Observatorium, das aber aus Kostengründen gestrichen werden musste. Hier in der Stadthalle sollte sozusagen das neue, geistige Magdeburg sein Zuhause haben, das Volkshaus als atheistische Alternative zu den zahlreichen Kirchen der Stadt, zum Feiern und zum gemeinsamen Lernen. Dem Eindruck einer „Heiligkeit“ des Ortes sollte auch die nach den Zerstörungen des Krieges leider nicht mehr so aufgebaute Vorderfront des Gebäudes dienen, deren steil aufsteigende Stirnwand ähnlich himmelstrebend gedacht war, wie man das von den gotischen Kathedralen kannte.
Die Stadthalle war das krönende Werk des Neuen Bauwillens, der zum Vermächtnis der SPD-Stadtregierung werden sollte. Schon aus diesem Grunde wäre die wieder oder derzeit nicht mehr ganz SPD-geführte Stadtregierung bestens beraten, wenn sie „ihrem Volkshaus“, also ihrem eigenen Vermächtnis, wieder die ihm gebührende Aufmerksamkeit zugestehen würde – dann aber so, dass das gedachte Haus des Volkes endlich realisiert würde, in den Vorstellungen, die Johannes Göderitz entwickelt hatte. Es war eben nicht nur als Absteige für B-Künstler gedacht, sondern als ein „würdevoller Monumentalbau“, der den Geist des modernen Magdeburg vorzeige, innen wie außen.