Die Pflaumen von neulich hatten ein schönes Blau, waren aber noch grün. Auch die Erdbeeren, prachtvolles Rot zwar, doch sie schmeckten wie Zitronen. Und die Äpfel hier? Ein oder zwei Kilo sollten es sein. Die mit dem zarten Gelb oder die roten.
Der Laden sollte sich mal zu Kostproben bequemen. Allerdings gab’s die damals im Paradies auch nicht. Mich deucht, Adam hatte in der Annahme, der Apfel schmeckt, einfach hineingebissen. Herzhaft womöglich. Und das war’s dann. Von dem Sündenfall sollte sich die Menschheit nicht mehr erholen
Eine Kundin in erbsgelber Strickmütze stößt mit ihrem Einkaufswagen an meine Ferse, murmelt „‘tschuldigung“ und zieht dabei ein Gesicht, als ob ich hätte besser aufpassen sollen. Ich! Mit der einen Hand greife ich einen Apfel von der rotbackigen Sorte, mit der anderen hole ich das Taschenmesser hervor. Kurz umgeschaut, und beherzt schnitze ich ein Scheibchen ab. Noch ein Vergewisserungsblick, und hinein damit in den Mund! Ich merke, wie meine Speicheldrüsen zu arbeiten beginnen. Auch wie sich die Schleimhäute kräuseln. Entschlossen lege ich den lädierten Apfel wieder zu den anderen. Mit der Schadseite nach unten. Oder ich gebe ihn zurück. Soll doch die Kassiererin mal selber kosten.
Adam hätte den verdammten Apfel auch zurückgeben sollen. Am Baum der Erkenntnis war er gereift, und der Dummkopf musste ihn essen, obwohl Gottvater genau das verboten hatte. Fortan sah Adam klar, nicht nur, dass er und seine Eva nackt herumliefen, sondern er wurde auf einmal klug. Hatte Eva etwa nichts von dem Apfel gegessen? Jetzt könnte ich zynisch werden, von wegen die Frauen jaja, hahaha. Gemach, Eva hatte ebenfalls vom Apfel genascht, beweisbar dadurch, dass Männer und Frauen im Durchschnitt die gleichen Intelligenzquotienten aufweisen. Und Adam und Eva erkannten nicht nur, dass ihre Geschlechtsmerkmale in ganzer Blöße zutage traten, sondern auch, dass sie sterblich waren. Allein schon dieser schrecklichen Erkenntnis wegen hätten sie den Apfel zurückgeben sollen. Aber war von dem überhaupt noch was übrig? Vielleicht nur der Griebs. Hätte dessen Rückgabe Gottvater versöhnlich gestimmt?
Ich nehme den angeschnittenen Apfel wieder zur Hand und lege ihn in den Einkaufswagen. Zwischen das Kürbiskernbrot, die Butter, die Landleberwurst und die vier Dosen gesüßter Milch (Moloko s sacharom steht in kyrillischen Buchstaben drauf). Alles aus konventioneller Produktion, ich hasse Bio. Und was hat uns Menschen die Erkenntnisfähigkeit gebracht?, sinniere ich weiter vor mich hin. Zum Beispiel, dass ich all das, was da vor mir in dem Wagen liegt, nicht selbst herstellen muss. Auch das Handy nicht, das soeben in meiner Hosentasche vermeldet, jemand habe ein WhatsApp geschickt. Und das Auto nicht, mit dem ich den ganzen Einkauf nach Hause transportiere. Apropos nach Hause, der Hausbau wäre, ohne vom Baum der Erkenntnis genascht zu haben, ebenfalls nicht möglich gewesen, zumindest nicht in so komfortabler Art. Was wäre denn geworden, frage ich mich, wenn auch die Tiere von diesem Baum gegessen hätten, die Rehe, die Löwen, die Raben, die Weinbergschnecken? Wahrscheinlich würden sie sich dank der Fortschritte, die ihnen damit ermöglicht worden wären, genauso hemmungslos vermehren wie wir Menschen. Man vermutet, dass im Europa der tiefsten Steinzeit gerade einmal hundert oder tausend Menschen gelebt haben. So wenig, dass die Menschheit ein paar Male am Rande des Aussterbens war. Heutzutage füllten diese Steinzeiteuropäer bestenfalls Westerhüsen aus. Auch an die Erfindung wundervoller Kampfmittel ist zu denken. Erkenntnisfähige Rehe, Löwen, Raben und Weinbergschnecken hätten jeweils ihre eigenen Waffen hervorgebracht. Das wäre der Over-over-kill für unsere Erde geworden. Allerdings kommt der auch so. Dank des seinerzeitigen Obstklaus ist der Mensch unter den 1,3 Millionen Tieren das einzige, das in der Lage ist, sich selbst zu vernichten. Per Knopfdruck auch den gesamten Globus.
Ich schaue in den Einkaufswagen. Da liegt er, der angeschnittene Apfel. Ganz unvermittelt fällt mir der Hund des Nachbarn ein. Stets glücklich, der dumme Hund (ich meine den Köter). Immer und immer freut er sich, wenn Herrchen nach Hause kommt, egal, welcher Laune Herrchen gerade ist. Und immer und immer scheint das Biest glücklich zu sein, sogar wenn er kläfft. Dann zieht er die Wangen weit nach hinten, so wie wir, wenn wir lachen. Überhaupt erwecken Tiere immerfort den Eindruck, glücklich zu sein, zumindest nicht unglücklich. Sogar in der Massenhaltung. Sonst würden die Hühner wohl keine Eier legen und die Schweine nicht ferkeln wollen, oder können. Nie hat man von einem unglücklichen Schaf oder Maikäfer gehört, es sei denn durch Dichter oder andere vermeintlich mitfühlende Menschen. Aber wer weiß schon, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein oder ein Karpfen. Tiere sind dumm, eben weil sie nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Daher auch weilen sie immer noch im Paradies. Sie haben keinen Geist oder einfach nicht genug davon, um unglücklich sein zu können. Da genau steckt unser Problem. Als Nachfahren von Adam und Eva haben wir Geist und können auch nur deshalb im Alter an Geist verlieren. Nicht die Tiere. Nie hat man von einem dementen Pferd oder Eichhörnchen oder Wasserfrosch gehört. Und wir, auf denen die Erbsünde lastet, wir laufen ständig mit der Angst vor der Demenz herum. Schon die Tatsache, dass ich seit einiger Zeit einen Einkaufszettel brauche, um nicht wieder die Zwiebeln zu vergessen oder die Kaffee-Pads, lässt die Alarmglocken läuten. Dazu auch noch diese Scheißangst vorm Tode. Als ob die Nicht-Existenz von irgendeinem Belang wäre. Nein, ich gebe den Apfel zurück.
Hoffentlich wird das da droben im Himmel auch registriert. Als symbolische Handlung dafür, dass ich im Paradies der Dummheit bleiben möchte. Denn selig sind die Armen im Geis-
te, jawohl. Wäre es mir vergönnt gewesen, mich seinerzeit persönlich entscheiden zu dürfen, hätte ich nicht in die verbotene Frucht gebissen, keinesfalls, und mich stattdessen weiterhin im Paradies der Dummheit gesonnt. Vielleicht zusammen mit Adam. Eva könnte sich anders entschieden haben, und das Problem mit den beiden Geschlechtern wäre gar nicht erst aufgetaucht. Ganz einfach: Die Frauen würden sich zu Fortpflanzungszwecken einen Mann nehmen und ihn hernach ins Paradies zurückschicken. Wozu dann, frage ich, überhaupt noch Gender-Forschung? Das schöne Geld könnte in neue Verkehrswege investiert werden, für die Frauen. Denn nur diese würden in der Lage sein, mit Autos umzugehen. Und die müssten sie sich natürlich selber bauen. Der ganze Ärger mit Staus und Rostschäden und Reifenwechsel bliebe unsereinem erspart. Geisteswissenschaften würden zu einer reinen Frauensache, denn nur sie haben ja Geist. Und sie allein müssten erklären, was Geist überhaupt ist. Bis zum heutigen Tag konnten das auch die Männer nicht. Natürlich nicht, denn der Geist müsste sich ja aus sich heraus erklären, weil er dafür nichts anderes hat als sich selber.
Wenn ich nun den Apfel zurückgebe, was wird dann die Kassiererin machen? Der sei nicht mehr verkaufbar, wird sie sagen, und ich müsse ihn bezahlen. Um ihn danach wegzuwerfen. Besser, ich lege den Apfel einfach wieder zurück. Allerdings kommt das einem Diebstahl gleich. Nicht anders, als wenn ich das Ding heimlich eingesteckt oder an Ort und Stelle aufgegessen hätte. Wie geschehen damals im Paradies. Nein: Ich gebe den Apfel zurück!