Die Landschaft wird immer karger. Die Leute, die hier entlang ziehen, das sieht man der Landschaft an, haben sich nicht freiwillig auf den Weg gemacht. Sichtbar am Hausrat, den sie mitschleppen, scheint es ein endgültiger Weg zu sein.
„Meine Sandalen fallen auseinander“, murmelt der Mann. Die Stimme ist die schwächlich-mürrische eines Erschöpften. „Wie und womit soll ich sie in dieser Wüstenei reparieren?“ „Es wird nicht besser, wenn du so vor dich hingrummelst“, sagt die Frau. „Es wird nicht besser, ja, da sagst du mal einen richtigen Satz.“ Die Frau schweigt. Sie will ihn nicht reizen. Er sagt dann wieder Worte, die er, kaum hat er sie gesagt, bereut. Das macht alles nur viel schlimmer. Also schweigt sie lieber.
„Herüben kommen wir auf eine Höhle. Wir sollten sie aufsuchen und im Schatten rasten, dass uns die Sonne nicht ins Hirn sticht.“ Die Frau pflichtet ihm bei. Mit ihrem Einverständnis bessert sich seine Laune. Er hat einen Vorschlag gemacht, den sie angenommen hat. Beschwingt läuft er in Richtung der Höhle, kaum kann die Frau ihm folgen, zieht sie doch den Esel und auf diesem den Hausrat hinter sich her, während der Mann munter den Stock schwingt und bald angekommen ist. Aus der Höhle weht sie Kühle an. Eine Wohltat nach dieser morgendlichen Hitzewanderung. Es ist alles gut. Sie wird nicht hören, was er denkt: Dass die Flucht um ihretwillen geschieht. Weil sie sich das Balg hat andrehen lassen. Weil es aus irgendeinem ihm nicht verständlichen Grunde plötzlich eine Bedeutung bekam, von der er nichts wusste. Das war nicht abgemacht. Sie wollte bei ihm Unterschlupf und er hat sie aufgenommen. Das war doch eine gute Tat. Doch der Herr, der, wie er meint, ihm das aufgebürdet hat, belohnt sie nicht, sondern schmeißt ihn aus seiner Lebensbahn, die einfach war, zuverlässig, wenig aufregend. Die also alles beinhaltete für ihn, was ihm wichtig war: Eine gewisse Ordnung. Aber mit der Geburt dieses Kindes, hat er das Gefühl, tat sich der Höllenschlund auf. Vielleicht als göttliche Rache, weil sie diese merkwürdigen ausländischen Magier an das Bett des Kindes gelassen hatte. Er hätte sie rausgeschmissen. Fremdes Gesindel. Was hat das am Bett seines, also ihres Kindes zu suchen? Die Gaben. Ja. Was nutzen sie ihr jetzt? Die Heimat müssen sie verlassen. Nirgendwo können sie sich in Sicherheit glauben. Der Mann lehnt sich an einen Felsvorsprung. Sie nimmt das Baby aus dem Körbchen und stillt es.
Ich kann mit ihr leben, denkt er. Das ist nicht die Frage. In meinem Alter eine so wunderbare junge Frau zu finden, das ist schon ein Geschenk. Gut, sie hätte sich nicht bei mir eingefunden, wenn das uneheliche Balg nicht einen Vater, sie nicht einen Mann brauchte, der ihm seinen Namen und ihr die Ehre gibt. Das weiß ich alles. Und trotzdem wärmt sie mir das Herz, wenn sie sich zu mir begibt und ihre wunderbaren nächtlichen Spiele betreibt, weil ich dann das Gefühl habe, dass sie mich trotz meines Alters noch als Mann wahrnimmt.
„Miriam“, sagt er, „geh mit dem Kind ein kleines Stück weit in die Höhle, dass du im Schatten sitzt. Falls sie uns suchen, dass sie dich nicht an deinem farbigen Tuch erkennen.“ Miriam erhebt sich. Sie mochte diese warme Stimme, die er hat, wenn er besorgt um sie ist. Er hat ja nicht so viel, was ihn liebenswert macht, denkt sie. Meine Freundinnen verstehen zwar, dass ich mich ehrbar machen musste, aber, sagen sie, wie hältst du das aus mit dem alten Tropf? Ach, sie wissen nicht, dass man das kann. Manchmal grummelt er. Als alter Mensch ist man vielleicht so geworden, dass man nicht mehr fröhlich in die Welt schaut. Dieser ewige Zahnschmerz, der kann einem das Leben vergällen. Aber er hält auf sich. Er ist sehr reinlich. „Das Alter riecht gern“, sagt er mitunter. „Dem will ich zuvorkommen.“ Um seinen Leib für mich erträglich zu machen, salbt er ihn nach dem Waschen mit einem Öl aus Myrrhe, Zimt, Kalmus, Cassia und Olivenöl, wenn wir beieinander liegen wollen. Er ist ein umsichtiger Mann, eigentlich eher ein geiziger, der sein Geld mit seinem Handwerk nur tropfenweise verdient. Aber meine Liebe, sagt er, ist ihm den Aufwand wert. Welcher Mann, würde ich meine Freundinnen fragen wollen, tut das für eine Frau, wenn er kein König ist? „Was soll das heißen“, fragte er neulich: „Sicher bin ich kein König, du aber meine Königin.“ Für solche Worte liege ich gern bei ihm. Das hat bisher nur er mir gegeben. Zärtlich schaut sie aus der Höhle auf ihren am Eingang sitzenden Wächter, der vor Erschöpfung eingeschlafen ist. Und welcher Mann, denkt sie noch, hätte all das Ungemach, das seit der Geburt über uns hereingebrochen ist, beinahe klaglos mitgetragen?
„Ein Reis wird aus dem Wurzelstock Isais sprossen, und ein Schössling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen.“ Der Mann, der nach kurzem Schlaf aufgewacht ist, summt diese Zeilen vor sich hin, ohne recht zu wissen, weshalb sie ihm gerade jetzt und hier, in der Verlassenheit dieser Wüste, durch den Kopf gehen. Die Geburt auf der Reise in seinen Heimatort anlässlich der Volkszählung, das Gewese, diese Leute, die von überall her kamen, das Kind zu sehen, die Anmaßung der Neugierigen, die sich nicht haben zurückdrängen lassen, die Mutter und Kind der wohlverdienten Ruhe beraubten und ihn ängstigten in ihrer Zudringlichkeit: Herrgott, was wollte er denn anderes, als in Ruhe seinem Handwerk nachgehen zu können. Kaum war das überstanden, kam die Nachricht aus der Heimat, umzukehren, um Gottes Willen nicht heimzukommen: Soldaten des Königs seien in ihren Wohnort eingedrungen, wären über die Haushalte hergefallen, und hätten die jungen Mütter aus den Häusern gezerrt, dass sie ihre neugeborenen Kinder auslieferten. Niemand wusste, was da in ihren Alltag einbrach, warum und wieso und weshalb in solcher Gewalt.
Von einem Tag auf den anderen bricht ihnen der Boden unter den Füßen weg. Er vermeint, das Klagen und Schreien der Menschen dort zu hören. Ihre Schreie irren durch seinen Kopf. „Wehe“, sagt er zu Miriam, „deine Schwägerin Rachel weint um ihre Kinder und nichts kann sie trösten. Tot sind sie.“ Wie soll er die junge Frau, die sich ihm anvertraut hatte, wie das Kind schützen? Er sieht keine andere Möglichkeit, als sie und das „Reis“ aus dem Lande zu bringen. Mit dem Wenigen, was sie besitzen, machten sie sich gestern auf den Weg. Nun warten sie in der Höhle ab, dass sich der Tag neigt. Es wird kühler. Miriam schlägt das Kind ins Tuch ein, dass es nicht friere, packt, was sie um sich ausgebreitet hatte, und bald schreiten sie, den Gestirnen nach, den Weg, der sie ins fremde Land führt. Miriam fröstelt. Sie legen einen Schritt zu.
„Wenn wir wieder Menschen begegnen, frage ich, wo in der fremden Stadt ein Sandalenmacher zu finden ist.“ Miriam seufzt. Warum erzählt er mir das, fragt sie sich. Ich kann ihm jetzt nicht helfen. Seine Vorsicht bewundert sie, wie es ihm gelingt, sie unentdeckt durch diese Einöde zu führen, die natürlich auch bewohnt ist. Man erzählt schlimme Geschichten von allerhand Raubgesellen, die sich in der Wüste aufhalten sollen. Aber sie durchqueren die Wüste unbehelligt. Je näher sie dem Nil kommen, desto mehr beschleicht sie ein Gefühl der Erleichterung. Vorsichtig erst, noch ist es nicht geschafft. „Aber jenseits des großen Flusses können wir sicher sein“, sagt er ihr ein ums andere Mal. Er weiß, dass sie diese Ermutigung braucht. Und braucht er sie nicht selbst? Über ihrer beider Bangnis sprechen sie nicht: Wie wird es sein in der Fremde? Wie wird man uns aufnehmen? Von Händlern, die, als er noch in seiner Werkstatt arbeitete, von Zeit zu Zeit hereinschauten, hatten sie gehört, dass die Menschen so verschieden hier seien, wie sie es in ihrem eigenen Volke auch sind: Es gäbe jene, die Fremde willkommen hießen. Und es gäbe andere, denen die Angst im Gesicht stünde, dass die Fremden ihnen Besitz oder Ehre raubten. „Nun“, hatte er damals gesagt, „verstehen könne er das ja, wenn fremde Besatzer kämen, aber bei Reisenden?“ „Jaja“, bestätigten die Händler, „glaub’ es nur. Natürlich ziehen wir mit unseren Waren dorthin, weil wir sie da gut verkaufen können. Aber angesehen sind wir deshalb bei vielen noch lange nicht. Es gilt, manchem Blick mit einem Lächeln zu begegnen.“
Ich will ihm nicht das Herz noch schwerer machen mit meinen Ängsten, denkt sie und greift nach seiner Hand, während sie am Ufer stehen und dem Boot entgegensehen, dass sie übersetzen soll. Ich will ihr meine Sorge nicht auch noch aufbürden, denkt er und lächelt sie an, während er ihr die Hand fest drückt. In diesem Augenblick ist sie sehr stolz auf ihren Mann und strahlt eine Zuversicht aus, wie er sie zuletzt vor ihrer Niederkunft bei ihr gesehen hatte. Er strafft sich und hat, als das Boot anlegt, das Gefühl, sie wolle seine Hand nie wieder loslassen.
Ludwig Schumann