Ohne den Stress mit den Lieben macht das Fest der Liebe auch
keinen Spaß …
Von Tina Heinz
Den Reißverschluss meiner neuen, billigen Jacke hatte ich bis über das Kinn gezogen, damit der eisige Wind – zumindest in diesem Bereich – keine Chance hatte, an meinen Körper zu dringen.
Du bist für den chinesischen Winter gewappnet, hatte ich gedacht. Hier, in dieser Region, die vom Steppenklima beherrscht wird. Doch in keiner Weise war ich auf diese trockene, eisige Kälte eingestellt, die mich tagelang in den Dauerzustand des Zitterns versetzt hatte.
Auf dem Weg zum Bahnhof war ich eine Station vor dem Ziel aus dem überfüllten Bus ausgestiegen. Die fragenden Blicke und die zahlreichen „Hello“, die mir aufgrund meines nicht-chinesischen Aussehens zugeraunt wurden, waren mir auf die Nerven gegangen. Und die Frage eines kleinen Jungen hatte dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Minutenlang musste er seine Großmutter am Jackenärmel zupfen, bis sie ihm die notwendige Aufmerksamkeit schenkte und er mit seiner zwar piepsigen Stimme, aber doch hörbar für alle Umstehenden, fragte, was das denn für ein Mensch sei. Er zeigte auf mich und die Blicke der anderen folgten seiner kleinen Hand. Na, immerhin ein Mensch – schoss es mir durch den Kopf, während ich mich zur Tür im Bus durchkämpfte.
Frische Luft und ein bisschen Platz, das brauchte ich jetzt. Doch in einer chinesischen „Kleinstadt“ mit mehr als vier Millionen Einwohnern erschien mir der Gedanke daran lächerlich. Entlang der Straße schob ich mich in gleicher Richtung wie die zahlreichen Autos. Wich entgegenkommenden Fußgängern und neugierigen Blicken aus. „Driving home for christmas“ kam mir in den Sinn, als mein Blick die Fahrzeuge verfolgte, die – wie eine endlose Perlenkette – das frühnachmittägliche Chaos durchzogen. Ja, es war der 23. Dezember. Aber keiner der Autofahrer war unterwegs, um zum Weihnachtsfest zuhause zu sein, und auch ich war nicht auf dem Weg in die Heimat.
Stattdessen stand ich kurz davor, mich auf eine siebenstündige Reise mit einem klapprigen Bus zu begeben, der mich ins etwa 500 Kilometer entfernte Peking bringen sollte. Noch mehr Menschen, noch mehr Fahrzeuge, noch mehr Smog und vielleicht auch ein Mehr an Weihnachtsstimmung… Ich trat von einem Bein aufs andere, hauchte in meine Hände, die sich anfühlten wie der Körper eines Karpfens, der in zwei Grad kaltem Wasser schwimmt. Der Busfahrer ließ sich Zeit, zündete sich noch eine weitere Zigarette an und musterte mich. Dann verzog er das Gesicht zu einem Grinsen. Kein „Hello“, sondern ganz normaler Small Talk auf Chinesisch folgte. Ob ich keinen Winter kenne, warum ich in der Stadt sei und was ich in Peking vorhatte.
Als er zu einem ausführlichen Referat über die Hauptstadt Chinas und ihre Sehenswürdigkeiten ausholte, wanderte mein Blick über den Parkplatz vor dem Hauptbahnhof. Der Wind schob kleine Wirbel aus Kohledreck über den Beton. Die Luft war erfüllt von schwarzen Partikeln, die sich überall einnisteten … in den Haaren, in der Kleidung, in den Augenwinkeln und wer-weiß-wo-noch. Seit Tagen hatte sich die Sonne versteckt – nicht hinter Wolken, sondern hinter einem dreckigen Schleier, der u.a. von den zahlreichen Kohleheizungen genährt wird. An die Feinstaubdebatte in Deutschland musste ich denken und schüttelte den Kopf. Zeitgleich zog ich die Jacke unbewusst noch höher, um durch den Kragen zu atmen.
Endlich war der Busfahrer mit seinem Vortrag und mit der Zigarette fertig. Der Rest des Glimmstängels landete auf dem Beton und wurde mit dem Kohlenstaub davongetragen. Er und die anderen Fahrgäste stiegen ein, die Reise nach Nordosten konnte losgehen. Ich freute mich auf eine internationale Metropole, auf historische Sehenswürdigkeiten und auf kulinarische Abenteuer. Doch am meisten erheiterte mich der Gedanke an einen Freund, der in wenigen Stunden auf dem Beijing Shoudu Guoji Jichang landen würde. Im Gepäck: Glühwein (immerhin ein Liter) und ein Paket meiner Eltern, bestückt mit einer weihnachtlichen Kerze und – viel wichtiger noch – Lebkuchen, Früchtebrot und zahlreichen Plätzchen aus eigener Herstellung. Ein wenig Weihnachten in der Fremde.
Wir verbrachten den Heiligabend und die darauffolgenden Feiertage mit Sightseeing. Aßen Dinge, von denen wir nicht wussten, was sie waren (besser so!). Antworteten penetranten Touristen-Neppern, die an jeder Ecke mit mäßigen Englischkenntnissen lauerten, stets auf Deutsch. Amüsierten uns über die Touristen, die eben diesen Neppern auf den Leim gingen (boah – ein echtes Armani/Gucci/Prada-Hemd für nur 10 Euro!). Wärmten Hände an Tee-Bechern und Füße, indem wir größtenteils auf Verkehrsmittel verzichteten. Welch ein Fest!
Beihai Park, Himmelstempel, Lamatempel, Verbotene Stadt, Platz des Himmlischen Friedens mit dem Denkmal für die Helden des Volkes, dem neuen Nationaltheater und der Großen Halle des Volkes – Peking hat eben mehr zu bieten als billigen Krimskrams und schlechte Luft. Selbst ein lethargisch dreinblickender Mao, der vom südlichen Eingang der Verbotenen Stadt aus über den Platz des Himmlischen Friedens wacht, und der Gedanke an das Schreckliche, was sich hier 1989 ereignete, konnte uns die Begeisterung für diese geschichtsträchtige Stadt nicht nehmen.
Das Stimmengewirr diverser Sprachen hing in der Luft, überall blinkte und leuchtete es, in den Nebenstraßen strömten verführerische Düfte aus den Garküchen. Aber nichts, rein gar nichts, vermochte es, weihnachtliche Stimmung aufkommen zu lassen. Weder die Temperatur unter dem Gefrierpunkt, noch die Lichterschläuche, die in den Einkaufstempeln zu Tannenbäumen, Rentieren oder Weihnachtsmännern geformt wurden. Und das scheinbar einzige in Peking bekannte Weihnachtslied „Jingle Bells“, das in jedem Warenhaus blechern dahindudelte, tötete das letzte Fünkchen Hoffnung auf weihnachtliche Stimmung.
Wir waren hin- und hergerissen. Wollten wir nun das typisch traditionell-chinesische Peking oder eine westlich-weichgespülte Variante der Hauptstadt? Sowohl das eine als auch das andere stand im Kontrast zu dem, was diese Jahreszeit üblicherweise versprach. Und auch das Botschaftsviertel „Sanlitun“ konnte mit seinen ausländischen Hotels, westlichen Cafés, Restaurants und Supermärkten dieses Versprechen nicht halten. Aber uns blieben zum Glück noch Weihnachtsplätzchen, Früchtebrot, Lebkuchen und Glühwein.
Und nach einem langen Tag unterwegs in Peking bot der Gemeinschaftsraum der Jugendherberge den idealen, ruhigen Zufluchtsort. Er war mit seinen Tischen und Stühlen aus Kunststoff zwar wenig festlich eingerichtet, aber frei von Feinstaub und die Mikrowelle ermöglichte es, den Glühwein auch zum Glühen zu bringen. Einmal vom Lebkuchen abgebissen, ein Schluck vom heißen Getränk genommen – und es wurde warm. Nicht unbedingt ums Herz, aber immerhin… Die Augen geschlossen, ließ sich ausblenden, dass dies in China ein Tag wie jeder andere war. Die Illusion ließ sogar Tannenbaumduft die Luft durchwabern. Doch selbst nachdem sich die Plätzchen in der Dose und der Glühwein in der Tasse verflüchtigt hatten, blieb die Erkenntnis, dass es an gewissen Tagen eben zu Hause am schönsten ist.