Glaube und Liebe sind vom selben Stoff

101113PG_MD_Sonne18Vor ihnen öffnete sich das Gestern.
Sie sah das Leben und erkannte es nicht. Er wusste keine Worte für die Liebe. Ein unerfüllbarer Traum durchschnitt ihre Hoffnung.
Die Einsamkeit gab seinem Schrei kein Echo. Die Tränen weinte sie im Dunkeln. Seine Augen suchten den Weg vergebens. Gedanken hatten die Zukunft verstellt.

Er blickte zur Uhr, doch die Zeit war nicht zu fassen.
Sie ließ die Stunde der Ahnungslosigkeit verstreichen.
Dann waren sie am Ziel, das kein Ende nehmen wollte.

Von Thomas Wischnewski

in gewaltiges Tosen hatte sich auf Annas Ohren gelegt. Ein Meer aus Tönen flutete ihren Geist. Ihr Körper geriet in Schwingung.  Schwermütige Klänge besetzten ihre Seele und verdrängten die letzte Leichtigkeit. Anna Bertold war, als würde sie vom mächtigen Klangspiel erdrückt. Sie hatte die Augen geschlossen. Der Organist, der Initiator des Spektakels, blieb hinter der hohen Balustrade unsichtbar. Offenbar zog er weitere Register am Manual des Instruments und verstärkte mit dem voluminösen Harmoniespektakel die Wirkung weiter. Unter der Last des sakralen Halls verharrte Anna regungslos. Das Pfeifen der Orgel nahm Besitz von ihr. Das imposante Getöse füllte den Raum, wurde von den massiven Sandsteinmauern zurückgeworfen, bäumte sich wie ein Orkansausen erneut auf und prallte mit Macht auf jeden erreichbaren Körper in der Kathedrale. Diesen brachialen Schwingungen konnte sich eine Menschenseele nicht entziehen. Als hätte Gott selbst die Stimme zum Zeichen seiner unerschütterlichen Macht erhoben, stürzten die Töne aus den Orgelpfeifen unter dem Kirchendach über die Menschen. Vereinnehmender konnte Musik nicht sein. Doch in dieser Stimme waren keine Worte. Die Choräle besaßen keine Begriffe, die ein menschlicher Geist fassen konnte. Das kolossale sphärische Werk wirkte wie ein musikalisches Tohuwabohu. Anna versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, aber sie blieb bis in den letzten Winkel ihres Körpers in der Musik gefangen. Sie wurde selbst Teil dieses Orgelkanons. Anna Bertold befand sich im größten Gotteshaus der Stadt und erlebte die Kirchenmusik wie eine Offenbarung. So wie Enrik Waldemann mit seinen Weisen ihre Seele zum Schwingen gebracht hatte, musste bei diesem monumentalen Klang ein ähnlicher Mechanismus wirken. Sie bekam eine Ahnung davon, wie Religionen das Gewicht der eindrucksvollen Tonalität, die unter dem Gewölbe regelrecht wucherte, seit hunderten Jahren nutzte, um sich Seelen zu bemächtigen.

Anna Bertold öffnete die Augen und blickte auf die Fresken an der Decke. In weiße Gewänder gehüllte Gestalten schwebten an einem gemalten Himmel. Manche waren martialisch mit Speeren bewaffnet, andere schienen mit gutmütigen Mienen dahin zu treiben. Bedrohlich, beschützend, bedrückend, mystisch und verheißungsvoll kamen ihr die Bildnisse vor. Hoffnung spiegelte sich in sanften Gesichtern der Engelsbildnisse. Verheißungsvolle Hingabe sah Anna in der Figur einer Frau, die sich auf eine kraftvolle männliche Gestalt mit langem, weißem Bart hin zu bewegen schien. Doch die Deckenbilder waren dem Leben entrückt. Sie zeigten kein weltliches Sein, sondern waren nur illusionäre Sphäre, trügerische Erscheinungen jenseits von allem Irdischen. Und gerade wegen dieser lebensfremden Wirkung besaß die Malerei unter dem Kirchendach eine magische, nicht beschreibbare Anziehungskraft. Anna Bertold wurde in diesem Moment bewusst, dass vom visionären Charakter der Darstellungen ein Zauber ausging, genauso wie von der ungewöhnlich machtvollen Magie der Orgel ihre Seele ergriffen worden war. Die Vorstellung, dass Leben nicht im Tod endete, sondern ein unaufhörliches Danach existierte, war das verführerische Blendwerk, das hier für den Glauben an Gott warb. Gleichfalls reifte in ihr der Gedanke, dass der Glaube an Gott eine ähnliche geistige Macht sein könnte, wie der Glaube an die Liebe. Die Vision von der Unendlichkeit des Glücks, von der Verheißung endloser Geborgenheit nährte die Sehnsucht und das Streben, in anderen die Erfüllung solcher Träume zu suchen. Erneut schloss Anna die Lider. Sie hatte die Bilder in ihren Geist aufgenommen und ließ sich von der Energie der Musik jeden rationalen Gedanken auslöschen.
Das Dröhnen zerrte an Annas Verstand. Weder den festen Boden unter ihren Füßen, noch die luftige Höhe über ihrem Haupt waren ihr just gegenwärtig. In diesem Zustand fand sich für Raum und Zeit kein klares Fassen. Alles hatte sich zu einer Einheit vermengt, jedes Ding und alles Lebendige. Eins schien alles geworden zu sein, manches mit anderem und letztlich fiel irgendwie alles in sich selbst zusammen. Anna war in sich gekehrt und fühlte sich zugleich verschmolzen mit dieser religiösen Aura. In ihr erwachte ein Verständnis von Allmacht.

210711PG_Dom2Plötzlich Stille. Ein letzter Ton verhallte. Anna Bertold öffnete die Augen und blickte in das lange Kirchenschiff. Mächtige quadratische Pfeiler aus Sandstein, an deren Innenseiten Säulen mit zierreichen Kapitellen herausgearbeitet waren, verjüngten sich in weiterer Höhe, bogen sich symmetrisch zur Spitze und gingen in einem Strebewerk auf. Sie blickte in die lichte Höhe eines gotischen Gewölbes. Etwa in der Mitte, vom Fuß bis unter die Dachspitzen, erhoben sich schmale, hohe Fenster, die unter ihren Bögen selbst ein mehrstöckiges Haus hätten aufnehmen können. Obwohl ringsum nun bedächtige Stille eingezogen war, schien es Anna, als schwebten die Harmonien des Orgelspiels noch unter den Kreuzbögen. Hier wohnte eine von Menschen gemachte Göttlichkeit.
„Wir alle haben Lebensdurst. Darin sind unsere Wünsche und Hoffnungen, darin ist unser Streben. Wie es uns nach Wasser dürstet, so dürstet es uns nach Leben, nach Harmonie und Einklang, nach Liebe, nach Zuwendung und Nähe …“ Anna Bertold lauschte den Worten des Predigers. ‚Lebensdurst – ein wundervolles Wort‘, dachte sie. Anna besaß Lebensdurst, einen ungemein präsenten Durst nach Leben. Einsamkeit war wie die Trockenheit einer Wüste. In der Sehnsucht nach einer Verbindung mit Simon, glaubte sie, könnte sich diese Einsamkeit überwinden lassen. In der Liebe zu diesem Mann läge die Vision für ein Morgen. In diesem Augenblick ahnte sie, dass dies jedoch nur ihr Glaube war. Dass Liebe im Fühlen erkennbar sein könnte, doch im Geiste war sie nichts anderes als ein Gedankengerüst. Eben nur der Glaube an deren Existenz. Liebe und Gott waren von derselben gedanklichen Beschaffenheit. Sie konnten nur in der Vorstellung eines Menschen existieren, jedoch nicht als messbare Konstante. Im Gebet und in der Predigt wurden die Worte für den Glauben geübt. Dadurch hielten Religionen Götter im Geiste der Menschen lebendig. Die Wirklichkeit begriffen Menschen jedoch in den Symbolen, in die sie ihre Überzeugungen eingepflanzt wissen wollten. Sie errichteten Kathedralen und glaubten, darin würde Gott zu Hause sein. Sie bauten Häuser als Zeichen eines gemeinsamen Lebensraumes mit den erwählten Partnern und glaubten, dass dann die Liebe darin wohnen würde. Die Bauwerke, die Menschen aufstellten, sind nichts anderes als Dokumente ihrer Gedankenwelt. Die Idee von Gott oder dass, was Gott wirklich sein würde, kann nicht in sichtbaren Bauten oder Amuletten sein. Genauso wenig konnte im Tausch der Ringe vor dem Traualtar die Liebe für die Ewigkeit besiegelt werden. In jedem Symbol steckte der nur hilflose Versuch, den Glauben eines Moments festhalten zu können.

Glaube war also ein bestimmendes Element der Seele. Anna glaubte nicht an Götter, aber sie wollte an das Gute im Menschen glauben, obwohl auf diesem Planeten kein gewaltsameres und zerstörerisches Lebewesen wandelte als der Mensch. Kein Wesen tötete die eigenen Artgenossen millionenfach, wie es Menschen untereinander taten. Keine Kreatur übte eine derartige Gewalt gegen seinesgleichen aus, ließ andere Hunger und Qualen leiden, verletzte, betrog und täuschte nicht nur irgendwelche entfernten anderen, sondern gar die unmittelbar Nächsten. Einzig der Glaube daran, dass die Menschen die ihnen innewohnende, zerstörerische Kraft nicht fortwährend gegen sich selbst einsetzten, ließ sie nebeneinander in relativer Friedlichkeit leben. Der Glaube, dass im Leben alles gut würde, war wohl einer der wichtigsten Garanten dafür, dass ein Mensch das eigene Wirken als etwas Wundervolles begreifen konnte, dass es Zukunft gäbe, für die es sich lohnte, das Leben zu gestalten. Doch würde das Leben tatsächlich gut werden können, da es doch in den Tod mündete, in ein unweigerliches Ende? War dieses Finale am Ende nichts anderes als der Zustand vor allem Beginn? Es gab keine selbst gedachte Bedeutung eines Menschen vor seiner Geburt, genauso wenig wie es eine nach dem Ableben geben würde. Bedeutung war einzig im Leben und letztlich nur in den Gedanken, die man in der Lebensfrist über die Existenz denken konnte.

Anna wusste in diesem Augenblick, dass Glaube kein Naturgesetz war, dass er kein ewiges Kreisen, wie das eines Planeten um die Sonne, sein konnte. Glaube war nur vorhanden, solange ein Mensch ihn dachte. Liebe würde nur sein, solange zwei Menschen alles, was sie sagten und taten, unter das Glaubensgerüst dieser Liebe stellten. Handelte einer nicht mehr unter demselben Bedeutungsbegriff wie der andere, löste sich die Liebe auf. Selbst wenn einer weiter an dieses Gerüst glaubte und das Handeln und Sagen nach dieser Idee ausrichtete, müsste er unweigerlich scheitern, weil der geglaubte Liebesbegleiter längst ein eigenes anderes Gerüst dachte. Allenfalls würde man sich im weiteren Verlauf an die Zeichen klammern, die man für die gemeinsame Vorstellung angeschafft und errichtet hatte. Letztlich haftete auch daran nur ein Hauch eines Glaubens an die Liebe, aber niemals die Liebe selbst. ‚Wohin verschwindet die Liebe, wenn sie stirbt? Lag ihr Tod genauso im Denken wie ihre kraftvolle Wahrnehmung, als sich zwei Menschen in den Armen lagen? Ich trage Liebe in mir, wie andere eine Überzeugung von Gott besitzen‘, dachte Anna.

Die Gewissheit über ihre Liebe zu Simon entsprang ausschließlich ihrem Hoffnungsplan. Simons Liebesgerüst war möglicherweise ein anderes als ihres. Er lebte in der Verbindung zu Susanne, und dieses eheliche Band würde nicht existieren, wenn es keine Idee dafür gäbe. Anna konnte für Simons Leben vielleicht nie die Bedeutung erreichen, die in ihren Vorstellungen lebte, weil sein Gerüst immer das Leben einer anderen berücksichtigen musste. Konnte sie dauerhaft ertragen, dass Simon ein geteilter Mann war? Liebe musste alles sein, sonst wäre sie nichts. Dieser Wunsch war ihr heilig. Wenn Glaube nur eine wage Möglichkeit wäre, könnte er ein Leben nicht tragen. Glaube musste bedingungslos sein, damit er das Handeln der Menschen bestimmte. War Liebe eines Partners nicht von bedingungsloser Einsicht, würde das Wirken für sie für den anderen auf Dauer zu Unglauben und Abkehr. Liebe konnte nicht von dem Wort vielleicht her bestimmt werden, sondern einzig aus der Gewissheit eines uneingeschränkten Glaubens. Im Glauben, dass Menschen für dieselbe Gesinnung einstehen würden, finden sie Orientierung fürs Leben.

‚Zweifel zerstört Glaube‘, dachte Anna. Im Zweifeln der Menschen könnte Gott gestorben sein. Im Zweifel verliert sich die Liebe. Sie hatte Simon dies eher unbewusst, aus einem Gefühl heraus, geschrieben. Jetzt war in ihr die Einsicht gereift, dass jede Lebensentscheidung einzig auf die Prüfung ihrer Richtigkeit bauen konnte. Nur darunter konnte eine Seele Ruhe finden. Offene Fragen waren ein Gefängnis. Gefangenschaft im Irren und in Unwissenheit. War die Entscheidung darüber, welche Fragen man nicht mehr stellen wollte, etwa Freiheit? Ungewissheit also nur ein Martyrium, immerfort Antworten hinterher zu laufen, die es gar nicht geben konnte, weil die Fragen davor nur ein selbstangerührter Geistesnebel waren? Skepsis entreißt den Boden, auf dem ein Mensch seine Existenz und seine Gefühle gestalten wollte. Die Pole, zwischen denen Menschen in ihrer Lebensfrist schwankten, hießen Gewissheit und Zweifel. Im Glauben finden Menschen Zuflucht für ihr Tun und zugleich ist er der Versuch eines Brückenschlags vom Zweifel zur Gewissheit, doch gewiss ist nur, was wirklich geschieht.

Anna dachte an die Musik, nach der ihre Seele schwingen konnte. Sie wollte gleichsam die Muse der Malerei in ihren Gedanken fassen und erkannte, dass die Künste wohl immer Verführer sein würden. Sie führten eine Seele nicht auf einen Lebenspfad, sondern lockten sie in eine Scheinwelt. Faszination hieß ihre teuflische Droge. Die Kunst zauberte mit Tönen und Farben. Sie jonglierte mit Ideen und zelebrierte ein kreatives Handwerk. Das zog andere mit der Sehnsucht an, selbst Meister solcher Illusionen sein zu wollen. Doch jedes Werk, das Menschen mit den Sinnen in den Bann schlug, war nichts als eine abartige Überzeichnung von Realität. Alle Kunstergüsse waren außerhalb des Lebens und kamen doch aus demselben. Diese sphärischen Interpretationen, die initiierten Fragen, die ewige Suche nach Antworten waren der Schlüssel, der einen Geist erst öffnete und dann süchtig machte. Weil der eigene Geist nicht fassbar war, fand das Spiel mit den Sinnen in der Kunst einen fruchtbaren Boden. Jeder konnte sein eigenes Bedeutungsgerüst zimmern. Darauf konnte Begeisterung und Ekstase wuchern. Ein Spektakel, das sich vom Gleichklang eines Alltags absetzte – das war das tiefere Wesen der Kunst. Dieses Schlüssels bediente sich die Kirche, um Menschen für den Glauben an Gott aufzuschließen, genauso wie die Kunst in einer Seele Gefühle einpflanzen konnte. Und zu guter Letzt hatten sich Menschen von dieser Wirkung Begriffe gemacht. Sie erfanden Worte für die Folgen der Sinnesberührungen und reflektierten die Imagination im Geiste. Musik und Malerei waren nur Werkzeuge, um an die Gedanken eines Menschen zu kommen. Konnten Worte also den direkten Weg nehmen? Kam Simon mit seiner Prosa Anna deshalb so nah, weil er ohne Umschweife auf die ihr wesenseigenen, tieferen Bedeutungen traf und diese mit seinen Begriffen verschmelzen konnte? Das Wort war die eigentliche Lebensmacht, weil jede Vorstellung, jedes Begreifen, alles Fassbare und alle Gedanken Worte waren. Sie bildeten den eigentlichen Spiegel, in dem sich ein Geist sehen konnte.

Simons wundervolle Worte hatten ihren Liebesglauben entfacht, doch sie nährten diese Hoffnung nur zu einem Teil. Einen möglichen Weg hatten sie gewiesen. Ein reales Ziel waren sie schuldig geblieben. Ihr Leben verknüpfte sich nur mit einem Teil von Simons Leben. Leben gegen Leben, so musste die Formel für die Hingabe an die Liebe lauten.

Glaube war durch das Denken der Menschen in die Welt gekommen. Wenn etwas schicksalhaft passierte, wenn etwas nicht verstanden wurde, schrieb man die Verantwortung für das Geschehen per Glauben einer höheren Macht zu. Es wäre leichter, die Bestimmung des Lebens und das Schicksal für den Tod in andere Hände zu legen, als es dem eigenen Wesen zugehörig zu begreifen. An eine Bestimmung zu glauben, würde die Hoffnung der Schwachen sein. Der Weg, den andere zeigten, war einfacher anzunehmen, als selbst einen zu wählen. Wenn Gott das Lebenszepter führte, müsste man sich nicht fortwährend mit Entscheidungen quälen. Anna wollte innehalten. Sie wollte in diesem Moment die Gedankenlast abstreifen. Leichtigkeit wünschte sie sich. So eine Art des Schwebens, wie sie es zu Beginn mit Simon erlebt hatte. Doch Schwermütigkeit und Melancholie hatten ihre Seele in Beschlag genommen. Der Zustand ließ sich nicht einfach auslöschen. Der Geist kannte keine Leere. Er war immer. Er war zugleich unteilbar und immer ein Ganzes. Im Geist lag die Offenbarung für den Lebenssinn. Im Tod ist kein Geist.

Ein Mensch war beständig in Unruhe, weil der Geist wie eine fortwährend sprudelnde Quelle im Denken begreifen wollte, was er selbst sein sollte und warum er nie ganz vollständig erschien. Doch die Gedankenwelt war in sich stets vollständig. Unaufhörlich hörten, forschten, analysierten, verglichen, bewerteten Annas Gedanken jedes Ereignis, jedes Gefühl, jede Begegnung. Alles, was ihrem Sein – ob nur mit einem Hauch oder mit größter Intensität – gegenwärtig wurde, rührte der Geist zu einer Bedeutung an. Es gab dort keinen Stillstand. Daher rührte dieses unaufhörliche Schwanken, daher diese ewige Suche, deshalb diese Ruhelosigkeit – in dieser pulsierenden Magie bewegte sich die Seele. War kein Glück, keine Harmonie und keine Freude in einem Menschen, füllte sich die Gedankensphäre mit Zweifeln, mit Ängsten und mit Kummer. Je mehr sich ein Geist in die eine oder andere Richtung bewegte, um so größer das empfundene Glück oder Unglück. Anna war dem Geheimnis der Seele auf die Spur gekommen. Die Seele, dieses doch so unfassbare Bündel im Kern des Menschen, in dem Fühlen, Denken und Begreifen war, lebte in der Lebensfrist in einem ständigen Spannungsfeld. Anfang und Ende, Höhen und Tiefen, Hochgenuss und Schmerz, Lust und Leid, Einsamkeit und Nähe, Liebe und Hass, Ankommen und Verzweiflung, Treiben und Rast, Verweilen und Eilen, Leichtigkeit und Last – in all diesen Sphären und jeder weiteren begreifbaren, trieb die Seele. War ein Pol weniger, wurde dessen Gegenteil spürbar. War keine Zuwendung, wuchs Einsamkeit. Löste sich Liebe auf, reifte die Sehnsucht nach ihr. Mit Glauben machte sich ein Geist auf den Weg zu den möglich schönen Seiten seiner Empfindungen. Konnten sich Menschen in ihrer eingegangenen Verbindung keine wundervollen Gefühle schenken, nahm die gegenteilige Seite Besitz vom Geist. Irgendwo, in jeder dieser Bedeutungs-setzungen, musste es wohl eine Art Scheidepunkt geben. An dem würde sich das Gute zum Schlechten wenden, an dessen Übergang wandelte sich die Sicht auf einen Partner vom Wohlwollen zum Missfallen.

Es gab keine Leere im Geist. Schwanden die Gedanken der Zuneigung, wurde das Denken von der Entfernung überwuchert. So wie Zeit immer war, war auch Geist unverrückbar gegenwärtig. Fühlte man das eine nicht, erfuhr man etwas anderes. Selbst der angebliche Zustand einer Gefühllosigkeit konnte nur der Übergang von einem Spüren in ein anderes sein. Die Wahrheit mutierte zur Lüge. Anna fand für ihren Glauben an die Liebe zu Simon keinen ausreichenden Widerhall in der Realität. Gott hatte im Verlauf der Jahrhunderte im Denken der Menschen immer weniger Platz eingenommen, weil einstige Wunder der Welt Erklärungen im Forscherdrang des Geistes fanden. Gott war ursprünglich die Faszination über die Wunder, und weil der Geist für manche Erscheinung keine Ursache erkennen konnte, musste er sie mit Gott füllen. Ein Mensch, der über eine gewisse Strahlkraft und über seine Worte in den Gedanken eines anderen nach und nach präsenter wurde, entfachte den unbeschreiblich starken Seelenpol der Liebe. Verstand es jemand, den Geist eines anderen ständig aufs Neue mit zauberhaften Bedeutungen zu füllen, lebte diese Liebe. Sperrte man einen Partner mehr und mehr aus den eigenen Gedanken aus oder gelänge es nicht, das Denken wieder positiv zu befruchten, entfalteten sich im Geist neue Wege, die vom bisher gedachten Zusammenhalt fortführten. Niemand müsste diesen Seelenspannungen schicksalhaft ausgeliefert sein. Jeder könnte Herr über die eigenen Gedanken sein. Man könnte selbst steuern, was sich da vergeistigt zusammenbraute, wenn man glaubte, wusste und wollte.

Anna versuchte, an Simon zu denken und fand doch nur ihre Freundin Alexandra. Sie wusste jetzt, dass Alex und ihr Gatte Robert diesen seelischen Raum eines gedanklichen Füreinanders nicht ausgefüllt hatten. Jeder hatte auf eigene Weise das Denken bewegt, ohne den anderen mitgenommen zu haben. Einzig in den Symbolen ihrer Ehe war noch Bindestoff. Der Glaube klammerte sich daran, aber nicht an die Seele des anderen. Ein Geständnis über die sich entfernenden Gedanken war von Verlustängsten getragen. Nicht die Wahrheit schmerzt, sondern die Lüge. Die Täuschung über die Gedanken war ein trügerischer, einfacher Weg. Deshalb schlugen ihn Menschen ein, um an der Institution Ehe festzuhalten, anstatt sich der Herausforderung und Mühe eines gemeinsamen Gestaltungsprozesses zu stellen. Auf dieselbe Weise mussten sich Susanne und Simon entfernt haben. Jeder musste die Quelle für das Bewertungsgerüst des anderen sein. Ihre Seelen hatten sich nach gewachsener Nähe am Anfang nach und nach verselbstständigt. Im ersten Erkennen gedanklicher Entfernung begannen die Fragen. Ein quälendes Warum zog Frauen und Männer unwillkürlich ins Scheitern. Der Geist füllte das Defizit verbindender Worte mit Begriffen einer Trennung. Simons Verharren in der Verantwortung seiner Ehe konnte Anna keine hinreichende Hoffnung für den Glauben an Zweisamkeit schenken. Sie blieb im Glauben allein. Da war die Erkenntnis wieder: Der Geist ließ keine Lücke. Spürte Anna keine Nähe, musste sie Alleinsein fühlen. Bewegte sich Simon nicht schon zu viele Jahre in einer Verklärung seines Lebens? Hatte er nicht schon zu lange getäuscht und gelogen, als dass er sich Anna mit Klarheit und Offenheit zuwenden konnte? Annas Geist am Scheidepunkt von Vielleicht und Gewissheit. Simon hatte Susanne keine überzeugenden Gestaltungswillen entgegengebracht und sie ihm anscheinend auch nicht. War der Schriftsteller mit seiner vielseitigen Sprache in der Lage, Anna ein anderes geistiges Engagement zu zeigen, als er es bisher lebte oder würde er in diesem Mechanismus seines Lebens gefangen bleiben? Anna wusste, dass dies die eigentliche Frage war, die ihr Simon in dieser Phase beantworten musste. Anna brauchte jetzt nur noch Gewissheit. Worte würden verhallen, wie Enriks Musik ausgeklungen war. Worte waren in sich genauso wandelbar, wie sich ihre Sicht auf Tims Bildnis ständig änderte.

Anna wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Die Teilnehmer am Gottesdienst waren längst gegangen. Der Küster löschte die Kerzen auf dem Altar. Unter den gewaltigen Ausmaßen des Kirchenschiffs war nur noch Leere. Anna fröstelte. Sie erhob sich von der Bank. Obwohl sie langsam zum Ausgang ging, hallten ihre Schritte an den Mauern wider. Nur mit großer Anstrengung konnte sie die schwere Pforte öffnen. Anna fühlte sich kraftlos. Die Gedanken der letzten Stunde mögen ihr Energie geraubt haben. Im Freien konnte sie sich zunächst nicht für eine Richtung entscheiden. Schließlich schlenderte sie zur Stadtmauer. Eine milde Brise wehte ihr ins Gesicht. Der Luftzug wärmte ihren Körper. Anna hatte keine Gewissheit über die Zukunft, keine mit Simon und keine über ein Ziel. Sie fand weder Halt noch Geborgenheit, keine Zuflucht und kein Ankommen. Sollte sie wieder reisen? Einfach vor der Ohnmacht vor einem offensichtlichen Nichts fliehen? Würde ihr Leben sonst in diesem Schwebezustand verharren? Reichte die Kraft eines Menschen, um ein dauerhaftes Umherirren fortzusetzen oder konnte eine Seele daran zerbrechen? Sinn war wohl nur in einem neuen Anfang. Waren Vergehen und Verlust von gleichberechtigter Schwere wie aller Anfang? Anna ging weiter. Sie blickte von der Stadtmauer herab auf den davor fließenden breiten Fluss. Sie sah, wie sich ein Lastkahn mit der Kraft seiner Motoren gegen die Fließrichtung stemmte. Das Schiff kam nur langsam voran. Trotzdem entwickelte es eine Energie, die sich der natürlichen Kraft des Wassers entgegenstemmen konnte. Anna wollte einen Aufbruch. Zögern würde die Gedankenlast vervielfachen. Zunächst wollte sie die Nacht überstehen. Morgen wäre ein anderer Tag, gewiss ein neues Leben auf dem Fundament von gestern.

(aus einem unveröffentlichten Manuskript)