Neues Jahr: Vorhang auf für ein anderes Land

vorhangaufIm März wird in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt. An dessen politischer Farbigkeit wird die Entwicklung in ganz Deutschland ablesbar sein.

Von Thomas Wischnewski

Die Ereignisse der Kölner Silvesternacht sind eine Zäsur für Deutschland. Der Schrecken massenhafter sexueller Übergriffe legitimiert nun die allgemeine Abwendung von der bisherigen Flüchtlingspolitik. Die Polizei agierte zunächst mit Nebelbomben in den Informationen über die Vorkommnisse und entlarvt die eigene Schere im Kopf. Irgendwie scheint es an vielen politischen und behördlichen Schaltstellen des Lebens  immer noch nicht angekommen zu sein, dass man Menschen nur mit Wahrhaftigkeit erreichen, in Verständnis führen und zu angemessenen Handlungen motivieren kann. Diese offensichtliche Angst vor einer Unmündigkeit der Staatsbürger schmilzt das Vertrauen in herrschende Politik weiter ab. Warnungen aus den Reihen etablierter Parteien, der Ereignisse wegen, nicht rechter Polemik auf den Leim zu gehen, verhallen vielfach wie Predigten gegen sündiges Verhalten unterm Kirchendach. Die Entwicklung ist landauf landab nicht aufzuhalten. Sie wird Deutschland langfristig in gesellschaftlichen und juristischen Fundamenten verändern.
Die Meinungsveränderungen werden in Sachsen-Anhalt am 13. März zur Landtagswahl sichtbar. Schon jetzt sprechen Umfragen und Prognosen der AfD ein zweistelliges Wahlergebnis zu. In der AfD hofft man insgeheim sogar auf ein mögliches Ergebnis um die 20 Prozent der Stimmen. Der Zustrom von Flüchtlingen und die politischen Botschaften regierender Parteien dazu mag ein Katalysator für die wachsende Wählergunst rechtskonservativer Programmatik sein, doch die wirklichen Ursachen reichen tiefer und liegen in den Mechanismen abstrahierter Politik mit häufig vereinfachten Botschaften. Glaubwürdigkeit bröckelt an plakativen Versprechungen und selten sichtbar werdenen Änderungen. Das hat über viele Jahre im Wählervolk eine gewisse Ohnmacht gegenüber demokratischer Mitwirkung entwickelt.
Im Osten Deutschlands ist die Bindung gegenüber den heutigen etablierten Parteien aufgrund seiner Geschichte besonders schwach ausgeprägt.  Gemessen an der Anzahl von 2,23 Millionen Einwohnern sind weniger als 18.000 Menschen in einer Partei organisiert. Ihr Anteil liegt bei unter 0,8 Prozent. Tendenz sinkend. In Sachsen sind es sogar noch weniger, nämlich nur gut 0,7 Prozent. Zwar geben auch in den westlichen Bundesländern immer mehr Menschen ihre Mitgliedsbücher zurück, aber der Anteil parteilich Organisierter liegt deutlich über dem hierzulande. In Niedersachsen sind es knapp 1,7 Prozent und in Hessen noch fast zwei Prozent. Ein höherer Mitgliederanteil besitzt eine gewisse stabilisierende Wirkung. Schon aus solchen Daten ist ablesbar, welches große tendenzielles Schwankungspotenzial im Osten schlummert.
Da ist die als bisher größte Herausforderung Deutschlands bezeichnete Bewältigung der Zuwanderung natürlich wie Wasser auf die Mühlen der Entwicklung. Selbst der mittlerweile einsetzende Kurswechsel auf Bundesebene mit seinen Forderungen nach Begrenzung der Flüchtlingszahlen oder ein kompromisslos starkes Auftreten des Staates mit forcierter Abschiebung gegenüber Integrationsunwilligen oder dingfest gemachten Straftätern zu reagieren, wird verlorenes Vertrauen in der Bürgerschaft nicht zurückerobern.
Man muss hier klar auf unsere rechtlichen Grundfesten blicken: Strafrechtlich verurteilt können nur solche Täter werden, bei denen die individuelle Schuld nachgewiesen ist. Beim Kölner Massenphänomen wird am Ende die Beweislage gegenüber Verdächtigen dünn sein. Hinzu kommen die Erschwernisse aus dem Asyl-, Aufenthaltsrecht und der Genfer Flüchtlingskonvention. Abgeschoben kann nur werden, wem im Rückführungsland keine Gefahr für Leben und Gesundheit droht. Und natürlich muss mit dem entsprechenden Herkunftsland auch ein Rückführungsabkommen existieren. Mit Algerien und Marokko gibt es das noch nicht. Straffällig gewordene Asylbewerber aus solchen Ländern kann man so leicht nicht loswerden und wohl schlecht irgendwo im Niemandsland abkippen.
So moralisch wertvoll von allen politischen Seiten jetzt noch stärker Anstrengungen zum Gelingen von Integration gefordert werden, so nüchtern muss man auf die tatsächlichen Möglichkeiten schauen. Funktionierende Integration ist kein theoretisierbarer und zu verallgemeinernder Prozess, sondern ein sehr individueller, der sich ausschließlich im Kleinen und mit jedem Einzelnen realisiert. Man versuche mehrere Hundert Hooligans mit reiner verbaler Argumentation aus ihrer Gruppendynamik herauszulösen. Wenn also für uns kulturfremde Menschengruppen im Alltag vereint bleiben, entwickeln diese eine eigene Dynamik eines Identifizierungs- und Abgrenzungsprozesses, der eher zu weiterer Verfestigung eigener Werte führt, anstatt zu deren Auflösung oder gar zu einem Werteersatz. Die heute schon in Ballungsräumen und Metropolen erkennbaren Parallelgesellschaften sind Ausdruck solchen Geschehens.
Gegenüber solchem Verlauf bleiben die öffentlichen Verlautbarungen von Bundes- oder Landespolitikern einfach und abstrakt. Genau das nährt die Bürgererfahrung der vergangenen Jahrzehnte und schmälert weiter das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Entscheider. Ein Wunder ist der gesellschaftliche Verlauf deshalb nicht, sondern eine vorhersehbare Folge. Ein bisher relativ stabiles Sicherheitsgefühl wird sich auflösen. Der Boden der europäischen Staatengemeinschaft erodiert schon. Konflikte werden nicht mehr nur in irgendwelchen entfernten Staaten ausbrechen, sondern zu einer Gefahr im Innern Europas. All das ändert das Leben der Deutschen. 2016: Vorhang auf für ein anderes Land.