Her mit den Spezialisten, aber bitte nicht über 55.
Der Fachkräftemangel bleibt ein hochbrisantes Schlagwort. Zehntausende Ingenieure würden beispielsweise deutschlandweit in Unternehmen fehlen . Regelmäßig stimmen Branchenfachverbände, Jobagentur und Politik ein Klagelied an, dass wichtige Stellen heute und noch viel weniger morgen nicht besetzt werden könnten. Der Chef der sachsen-anhaltischen Arbeitsagentur, Kay Senius, hat jetzt neue Erkenntnisse über die Vermittlung älterer Arbeitnehmer verkündet:
Demnach würden von 1.000 Arbeitnehmern über 55 Jahren nur 36 vermittelt werden. Bei jungen Arbeitssuchenden könnten immerhin 113 von 1.000 einen neuen Job bekommen. Die Vorhersagen zum demografischen Wandel bescheinigten älteren Arbeitnehmern bisher bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Man würde in Unternehmen wieder mehr auf Erfahrung, Verlässlichkeit und Kompetenz setzen, so lauteten vielfach die Prognosen. Doch die Wirklichkeit zeigt ein anderes Bild. Menschen jenseits des 55. Lebensjahres werde mangelnde Leistungsfähigkeit und gesundheitliche Einschränkungen unterstellt. Es herrschten in Firmen nach wie vor Vorurteile gegenüber älteren Bewerbern, meinen die Arbeitsvermittlungsexperten. Demnach kann der Druck aus einem orakelten Fachkräftemangel doch nicht so groß sein, wie so oft verkündet. Möglicherweise seien Menschen über 55 Jahre zwar öfter krank, dafür würden sie jedoch weniger Fehler machen und grundsätzlich verlässlicher arbeiten. Was gern verkündet und gewollt ist, setzt sich in der Realität leider nicht um. Das ist die eigentliche Erkenntnis aus den Erhebungen der Arbeitsagentur. Insofern müssen auch immer wieder Zweifel am massenhaften Fachkräftemangel angemeldet werden. Der Zweifel wird umso größer, wenn man weiß, dass die Zahlen zu den angeblich fehlenden Spezialisten in der Regel aus Umfragen herrühren. IHKs und Handwerkskammern lassen sich Fragebögen von ausgewählten Unternehmen der Region beantworten. Die dort angegebenen Einlassungen, wie viele Neueinstellungen für das nächste Jahr geplant würden, werden mit dem Bewerberstand abgeglichen und hochgerechnet. Auf diese Weise entstehen zwar große Zahlen, die aber kaum für ein realistisches Abbild taugen. Älteren Arbeitssuchenden darf aufgrund ihrer langjährigen Berufserfahrung so viel Fachkompetenz unterstellt werden, dass sie sicher auch Expertenjobs ausfüllen könnten. Wenn da nicht das existierende Vorurteil auf Unternehmensseite wäre. Klar, unter solchen Vorzeichen kann auch der beste erfahrene Arbeitnehmer den Mut an einer Bewerbung verlieren. So etwas nennt man einen Teufelskreis.
Thomas Wischnewski