Die Nation hängt an der Vergangenheit, an den Erfolgen des deutschen Spitzensports. Doch für die Zukunft und Förderung des Leistungssports wollen weder Politik noch Wirtschaft ausreichend Geld bereitstellen.
Von Rudi Bartlitz
Es war schon des Bemerkens wert: Als die reichen Hamburger Pfeffersäcke bei ihrem Griff nach Olympia 2024 schon bei den eigenen Bürgern gegen die Wand liefen, löste das im übrigen Land zwar ein kurzes Bedauern aus, hinterließ aber ansonsten kaum Spuren. Der Aufschrei blieb aus. Von einem Beben beim Normal-Publikum war in unserem ansonsten doch so sportverliebten Land, erstaunlicherweise, wenig zu spüren. Bei Otto Normalverbraucher hieß es: Sollen sich die Hanseaten doch ihre Infrastruktur selbst finanzieren – Pech gehabt, zu den Akten, abheften, erledigt.
Für den deutschen Sport und seine Führung sieht es da anders aus. Die Wirkung des Olympia-Neins war verheerend, von der Blamage ganz zu schweigen. Manche glaubten, zumal Rio immer näher rückt, ihnen werde der Boden unter den Füßen weggezogen. Das Nein der bayerischen Bergbauern, die ihre Wiesen partout nicht für den Ringe-Spaß im Winter hatten hergeben wollen, wurde kurz zuvor noch zähneknirschend hingenommen. Schlecht vorbereitet, ein Betriebsunfall, hieß es. Aber jetzt das: In einer Volksbefragung sprach sich die Mehrheit der Bürger der vermögendsten Stadt Europas gegen Olympia aus.
Gerade die kleineren Sportarten sahen darin eine Art Dolchstoß-Legende. Wenn man schon Olympia nicht will, wer soll denn dann noch diejenigen wollen, die gerade auf die Spiele angewiesen sind, um Aufmerksamkeit für sich zu erheischen, fragten die Athleten. Kanuten, Ruderer, Hockeyspieler, ja auch die meisten Leichtathleten und Schwimmer. Der Untergang des Leistungssports schwebte schon wie ein Menetekel über allem. „Olympische Spiele sind eine Chance und auch ein Schutzraum für Sportarten, die sonst keine sichtbare Bühne haben“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), Michael Vesper. Die Angst ist groß, und wohl auch nicht unbegründet, dass der alles beherrschende Fußball in diesem Land nun noch mehr Aufwind (und eben Geld) erhalten wird. Zwei Fragen folgten auf dem Fuße und werden seither emsig diskutiert: Welchen Sport wollen wir überhaupt? Und: Was ist uns der Hochleistungssport noch wert? Fragen, vor denen sich die Gesellschaft, und da vor allem Politik und organisierter Sport, nicht wird länger drücken können. Wie viel ist die Bundesrepublik bereit, künftig in die öffentliche Sportförderung zu stecken?
Offenbar ist es im Deutschland des Jahres 2016 kein Selbstläufer mehr, dass man sich Olympische Spiele einfach mal so gönnt (was bei München 1972 noch undenkbar gewesen wäre). Hamburg scheiterte auch, weil der Bund für knapp sieben Milliarden Euro (!) Zuschuss vorab keine verbindliche Zusage geben konnte (oder wollte?) und die Bürger befürchteten, ihre Stadt würde am Ende auf den Kosten sitzen bleiben. Hinzu kommen gestiegenes – und begründetes! – Misstrauen in die Fähigkeiten des eigenen Staates, Großprojekte noch zu stemmen. Hamburg hat seine Elbphilharmonie, Berlin seinen Flughafen, Stuttgart seinen unterirdischen Bahnhof. Überall Murks und davongaloppierende Preise. Wer will es da den Bürgern verdenken, wenn in Zeiten ohnehin knappen Geldes und der noch unkalkulierbaren Summen zur Lösung des Flüchtlingsproblems eine immer größer werdende Zahl von ihnen nicht mehr bereit ist, Milliardensummen in so genannte Prestigeprojekte wie Olympia zu stecken.
Hier deutet sich allerdings ein Widerspruch an: Zwei von drei Bundesbürgern geben Untersuchungen zufolge an, glücklich zu sein, wenn Deutsche sportliche Erfolge erzielen. Wenn die olympische Fanfare erklingt, sitzen sie gebannt vor den Bildschirmen. Und brechen, wenn es denn noch eine Möglichkeit gibt, in schwarz-rot-goldenen Jubel aus. Nur: Kosten soll es, bitteschön, möglichst wenig. Diese Rechnung kann nicht aufgehen. Auch bei anderen Untersuchungsergebnissen gerät der Betrachter in eine gedankliche Schieflage: 93 Prozent der jungen Deutschen halten unsere Spitzensportler für Vorbilder in punkto Leistungswillen, und selbst diejenigen, die angeben, nicht an Spitzensport interessiert zu sein, sehen (mit weit über 80 Prozent) Spitzensportler als Vorbilder für die Gesellschaft an. Dass erfolgreicher Spitzensport allerdings Geld kostet (und zwar heute mehr als gestern), auf diesem Ohr sind viele zunehmend taub. Zusätzliches Geld für den Sport? Aber nicht doch! Da hört die Freundschaft dann auf …
Woran liegt es? Kritiker werfen den Deutschen vor, dass hinter einer Ablehnung wie jüngst in Hamburg eine allgemeine Angst davor stecke, für ein großes Ziel auch einmal ein Risiko einzugehen. Und das nicht nur im Sport. Stattdessen habe sich in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft eine Saturiertheit breitgemacht. Die große Mehrheit der Bevölkerung hat sich im Wohlstand eingekuschelt. Und scheut alles, was ihn möglicherweise gefährden könne. Einen interessanten Hinweis auf Motive, warum in der Bundesrepublik der Spitzensport lange ohne Murren und ohne hörbare Kritik von außen gefördert wurde, lieferte Prof. Volker Schürmann von der Deutschen Sporthochschule Köln dieser Tage in der FAZ. Im Kalten Krieg, so der Chef des dortigen Philosophie-Instituts, habe der Staat Athleten gefördert, weil er mit ihren Erfolgen als Sieger in einer Sportschlacht der Nationen hervorgehen wollte; die Parallelen zur DDR springen nachgerade ins Auge. Dass mit dem Wegfall der weltweiten Systemauseinandersetzung dieser Ansporn nach und nach schwand – und damit die Motivation der Politik, den Sportstreit mit Finanzmitteln zu befeuern, das ist an der Medaillenbilanz deutlich ablesbar. Seit der Wende ging der Anteil der olympischen Plaketten signifikant zurück: im Wintersport um 43 Prozent, in den Sommersportarten um sage und schreibe 66 Prozent.
„Von einem Leistungssportstandort Deutschland kann kaum noch gesprochen werden“, konstatiert nüchtern der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Forschungszentrums für Leistungssport Köln, Joachim Mester. „Sowohl im Sommer wie im Winter verlieren wir tendenziell an Bedeutung“, warnt DOSB-Chef Alfons Hörmann. Eine Konzentration auf einige wenige, maximalen Erfolg versprechende Sportarten – als eine Art Ausweg aus der finanziellen Klemme – lehnt er indes ab. Ein (Pyrrhus)Sieg des Föderalismus. Angemahnt wird von Experten seit längerem eine Professionalisierung und Systematisierung des hiesigen Leistungssports. Selbst wenn jetzt eine angeblich tiefgreifende Strukturreform im deutschen Hochleistungssport in Angriff genommen wird, bleibt zu befürchten: So wird das wohl nichts. Am Ende wird es ein Sturm im Wasserglas bleiben. Weil auch dann das Geld hinten und vorn nicht reichen wird.
157 Millionen Euro stellt das zuständige Bundesinnenministerium jährlich für die Spitzenförderung bereit, im Olympiazyklus 2008 bis 2012 waren es immerhin rund 580 Millionen Euro. Nicht wenig, sollte man meinen. Doch Fachverbände, Trainer und Athleten erwarten unter Hinweis auf den sich immer mehr zuspitzenden internationalen Konkurrenzkampf im Sport und auf spendierfreudigere Nationen (gemeint sind nicht nur Diktaturen und andere autokratisch geführte Staaten) nicht zu Unrecht mehr Geld. Der Staat scheint allerdings an den Grenzen seiner Bereitschaft (vielleicht auch an seiner Fähigkeit), mehr zu zahlen, angekommen. Bliebe als Rettungsanker noch die Wirtschaft. Doch von der viertstärksten Industrienation des Erdballs ist leider, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, flächendeckend wenig zu erwarten. Und wenn ja, dann höchstens, Beispiel VW, im Fußball.
Wenn das so ist, müssen eben die Ansprüche reduziert werden. Doch kaum jemand, weder führende Politiker noch hochrangige Sportfunktionäre (von den Medien ganz zu schweigen), hat bis heute einmal den Mut gefunden, öffentlich einzugestehen: Okay, dann sind wir eben mit weniger zufrieden, finden uns mit einer kleineren Zahl von Medaillen ab. Okay, dann steht die einst große Sportnation Deutschland im olympischen Medaillenspiegel künftig irgendwo zwischen Rang 15 und 20. Nein, man darf vielmehr darauf wetten, dass kurz vor Rio gerade aus dem Lager der Politik wieder Sprüche im Sinne von Altbundespräsident Theodor Heuss kommen: „Na, dann siegt mal schön …“ In diesem Widerspruch liegt die eigentliche Crux.