Auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung für die Magdeburger Spielart des Massenphänomen Fußballs.
Es hatte etwas von ungewollter Symbolik: Da standen Hunderte Magdeburger an einem windigen Februarvormittag in einer nicht enden wollenden Schlange stundenlang vor den Kassenhäuschen der …
MDCC-Arena nach Karten für ein Spiel des heimischen Klubs an – und die Spieler trabten während ihres morgendlichen Trainings in Grüppchen an den Wartenden vorbei. Neugierige Blicke bei den Fans. Pures, fast grenzenloses Erstaunen bei den Aktiven. So etwas hatten die meisten von ihnen vorher noch nie erlebt.
Da war es wieder, eines jener Phänomene, für die der 1. FC Magdeburg seit seinem Aufstieg im Spätsommer 2015 in den Profifußball in nahezu regelmäßigen Abständen sorgt. Diesmal der Run auf Tickets für die Ostderbys gegen Hansa Rostock und Dynamo Dresden. Binnen 48 Stunden waren die Karten weg. Der Klub hätte gut und gern das Doppelte bis Dreifache an Billets verkaufen können – und das wohlgemerkt in der 3.Liga. Mit einem Zuschauerschnitt von derzeit 17.700 haben die Blau-Weißen längst Zweitliga-Format erreicht.
Seit Monaten rätseln Experten und Laien, was dieses „Fußball-Phänomen Magdeburg“ denn ausmacht – und das nicht nur in Sachsen-Anhalt. Anfangs war vieles noch auf die neue Situation (nach 25 Jahren endlich im Profifußball) zurückgeführt worden. Die Euphorie, meinten viele, legt sich nach ein paar Wochen der Neugier wieder. Falsch gedacht. Sie hält an, zusätzlich befeuert durch die Erfolge des Härtel-Teams auf dem grünen Rasen. Mit den beiden Ost-Derbys gegen Rostock (5. März) und Dresden (16./17. April) strebt der Kicker-Ausnahmezustand, das darf gefahrlos prognostiziert werden, hierzulande neuen Höhepunkten entgegen.
Was macht es also aus, das Fußball-Hochgefühl an der Elbe? Wie erklärt sich die Wissenschaft dieses Phänomen? Was geht da in den Köpfen (und Herzen) der Stadionbesucher vor? Magdeburg Kompakt begab sich auf Spurensuche.
Erste Antwort: Es gehört zu den Binsenweisheiten der Psychologie wie der Soziologie, dass der Mensch ein Sozialtier ist. „Er ist ein Rudeltier. Und das fühlt sich grundsätzlich wohl in einer Gruppe, die gemeinsame Interessen verfolgt“, sagt die Magdeburger Sportpsychologin Prof. Dr. Heike Kugler im Gespräch mit Magdeburg Kompakt. Kugler lehrt an der Hochschule für angewandtes Management im bayerischen Erding, wo sie Sportmanager und Wirtschaftspsychologen ausbildet. Sie hat aber auch schon Handball- und Fußballteams des SCM und FCM beraten. „Die gleichen Interessen, die gleiche Idee, das schweißt zusammen. Man fühlt sich einfach Klasse, wenn man Begeisterung und Emotionalität für die gleiche Sache mit anderen teilen kann. Fußball ist dabei eine unglaublich einfache Möglichkeit, Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu demonstrieren. Wenn dann noch über 20.000 Zuschauer im Stadion sind, wird es noch erhebender zu sagen: Ich bin ein Teil davon.“
Ein wichtiger Aspekt der ungeheuren Popularität des Balltretens , das darf bei aller wissenschaftlichen Annäherung nicht vergessen werden, ist die geniale Einfachheit des Spielgedankens. Es geht, abgewandelt, um die immerwährende Geschichte vom Kampf des Guten (eigene Mannschaft) gegen das Böse (Gegner). Der Ball muss ins Tor. Jeder Vierjährige kann diese Spielidee begreifen, und das Spiel lässt sich überall ausprobieren. Man braucht nicht mal einen Ball, notfalls tut es auch eine Dose. Sicher, der moderne Fußball hat komplizierte Spezialregeln, aber man muss das alles nicht wissen, um einem Spiel folgen zu können. Das macht viel vom Massenphänomen Fußball aus. Auch an der Elbe.
Kugler spricht im Zusammenhang mit der neuen Magdeburger Begeisterung sogar von einem „regionalen Patriotismus“, der durch den Aufstieg in die Dritte Liga belebt worden ist. Dieser regionale Patriotismus sei generell „als etwas Gutes“ zu bewerten. „Er ist bei den meisten von uns latent vorhanden, wird durch spektakuläre Ereignisse wie den Aufstieg aber jetzt nach vorn gespült. Plötzlich werden Träume wahr, ich selbst werde Teil einer Erfolgsgeschichte. Ich stehe auf der richtigen Seite.“
„Über den Bezug zu Gleichgesinnten wird die persönliche Identität gestärkt“, unterstreicht Prof. Jens Kleinert von der Deutschen Sporthochschule in Köln: „Das ist eine Erhöhung des Selbstwerts: Auch ich bin ein Fan, auch ich bin jemand, der Flagge zeigt.“ Salopp gesagt, der Stadionbesucher fühlt sich, obwohl er selbst direkt recht wenig dazu beigetragen hat, als Siegertyp. Der Mensch geht auch ins Stadion, ergänzt sein Kölner Kollege Prof. Jens Uhrich, weil er dort ein positives Selbstbewusstsein aufbauen kann. „Er bekommt eine Antwort auf die Frage: Wer bin ich selbst, wie definiere ich mich, wie grenze ich mich von anderen ab.“
Und noch etwas spielt eine nicht unwesentliche Rolle: die menschliche Neugier. Wenn plötzlich alle über den Fußball diskutieren, will man mitreden können, dabei gewesen sein. „Das ist Teil der bereits erwähnten Emotionalität“, erläutert Prof. Kugler. „So ein Ereignis wirkt ansteckend. Ich will wissen, wie wirkt das auf mich? Ich will daran teilhaben. Ich will dabei gewesen sein. Ich will mitreden können. Ich will zum Kreis jener gehören, die dazu etwas sagen können. Also alles Dinge, die mein Selbstwertgefühl steigern.“
Auf der Suche nach Ursachen für die Magdeburger Begeisterungswelle verweist Kugler, die seit zehn Jahren auch Spitzenathleten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes bei Top-Ereignissen wie Olympia und WM berät, zudem auf ein hohes Maß an Emotionalität, dass gerade in einem Fußballstadion freigesetzt wird: „Wo anders kann ich mich heute noch so richtig ausleben, ja ausflippen, ausrasten, die Sau rauslassen?“, fragt die Sportpsychologin. Sie weiß sich da einig mit den meisten ihrer Kollegen. In einem Stadion , sagt die Wissenschaft generell, können die Zuschauer ihre Emotionen verbal oder sogar körperlich ausdrücken, und das, ohne Maßregeln befürchten zu müssen. Alltägliche Normen sind hier für eine Weile außer Kraft gesetzt.
Manchmal gewinnt der neutrale Betrachter in Magdeburg allerdings den Eindruck, dass es einer Reihe von Fans einzig und allein um das Ausleben von eigenen Gefühlen geht – und nicht darum, was sich da unten auf dem grünen Rasen tatsächlich abspielt. Ihnen, so scheint es, ist das Kollektiv-Erlebnis heilig. Hinzu kommt, dass traditionelle Gemeinschaften wie Familie oder Nachbarschaft – da bildet Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt gewiss keine Ausnahme – mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Der Block U sozusagen als Familienersatz. Zumindest am Wochenende.
Rudi Bartlitz