Als ich Weihnachten 2014 in Schweden war, fragte ich mich, wo ich eigentlich zu Hause bin? Da standen gleichberechtigt zwei Städte vor meinem inneren Auge: Tartous am Mittelmeer und Magdeburg an der Elbe. In beiden dieser Städte habe ich die Hälfte meines Lebens verbracht. Ich sitze da, betrachte die Elbe, das fallende Laub im Herbst und es formt sich ein Gedicht in deutscher Sprache.
Anderentags sitze ich zu Hause und die Sprache, die tief in mir verwurzelt ist, fordert ihr Recht und ich schreibe ein Gedicht in arabischer Sprache.“ Dr. Wahid Nader, Syrer aus Bmanneh, 1955 dort geboren, studierte zunächst in Homs /Syrien an der Fakultät Chemie- und Petroltechnik. 1980 schloss er das Studium als Chemie-Ingenieur ab, arbeitete bis 1984 in Damaskus, bevor er 1985 bis 1987 zu einem Ergänzungsstudium nach Magdeburg kam, wo er an der Sektion Maschinenbau zunächst das Diplom ablegte und 1987 bis 1990, nach dem Abschluss als Fachingenieur für Tribotechnik schließlich auch noch promovierte: „Bei Professor Dr. Schneider, der ein weltweit anerkannter Fachmann für Tribotechnik war.“
Die Tribotechniker untersuchen beispielsweise Reibungsverluste. Ein Techniker also. Ein Techniker als Dichter. „Da geht es auch um Reibung. Man reibt sich an der Sprache. Als Dichter erforscht man die Sprache, schaut, was hinter den Worten noch für eine Bedeutung zu finden ist.“ Einen 1. Preis erhielt er bereits 1978 beim Literaturwettbewerb der Dichter an den syrischen Universitäten und Hochschulen. „Das ist auch das Schöne beim Schreiben in anderen Sprachen. Man versucht, hinter die Worte zu schauen, sie in neue Zusammenhänge zu stellen.“ Während seines Studiums arbeitete er auch im Zirkel schreibender Arbeiter des Traktorenwerks Schönebeck unter Leitung des Magdeburger Dichters Rainer Bonack. 1990 bis 1995 lehrte Nader als Dozent an der syrischen Universität Aleppo. Dann kehrte er zurück in „seine Stadt“ an der Elbe. Damals war das Magdeburger Image weltweit beschädigt durch rechte Übergriffe. „Dr. Polte bat uns Ausländer zum Gespräch. Er regte an, dass wir Stadtführer werden sollten, um Vorurteile ausländischer Gäste abzubauen.“ Wahid Nader setzte sich wieder auf die Schulbank und machte eine einjährige Ausbildung zum Stadtführer. „Wir waren damals acht ausländische Stadtführer. Ich habe sehr viele arabische Gäste durch Magdeburg geführt, darunter auch Staatsgäste. Ich erinnere mich lebhaft des damaligen ägyptischen Botschafters, dem ich die Stadt zeigen durfte. Der Mann war unglaublich stolz, als ich ihm erzählte, dass die beiden Heiligen des Doms, Katharina und Mauritius, aus Ägypten stammten. Immer wieder wunderte er sich darüber und freute sich unbändig. Das war eine spannende Zeit. Jetzt sind das leider viel weniger Führungen geworden. Dafür kommen dann Anfragen, ob ich nicht mal Texte für einen Waffenkatalog ins Arabische übersetzen kann. Nein, so etwas mache ich nicht. Ich bin Pazifist.“
Wahid Nader ist literarisch natürlich auch als Übersetzer gefragt. So hat er Herta Müllers „Atemschaukel“ ins Arabische übersetzt. 2010 erschien sein Gedichtband „Ich weide Sterne auf trunkener Nacht“ im Verlag Hans Schiler, Berlin. Ein feines Buch, durch dessen Seiten immer auch ein wenig die arabische Sprache weht in den wunderschönen Bildern, die er findet. „Ich mache eben Gedichte. Die sind nicht so oder so. Die sind meine.“ Ja, und das ist eine Weltsicht, auch auf Wahid Naders zweite Heimatstadt Magdeburg, die fehlen würde, wenn sie fehlte. Wohl kaum ein deutscher Dichter hat diese Stadt an der Elbe so geatmet. Ludwig Schumann