Der Monat der Wahrheit

100216PG_Wiegert7Im April kann Handball-Bundesligist SC Magdeburg in einer eher ver-korksten Saison einiges zum Guten wenden. In zwei Pokalwettbewerben sind die Grün-Roten noch vertreten.

Von Rudi Bartlitz

Wir schreiben den 1. Mai 1996. Alsterdorfer Sporthalle in Hamburg.

Vor den Handballern des SC Magdeburg steht an diesem Feiertag, einem Mittwochnachmittag, die wohl größte Bewährungsprobe seit der Wende. Erstmals seit dem Mauerfall und damit erstmals im gesamtdeutschen Handball haben sich die Grün-Roten in ein Finale um den DHB-Pokal gekämpft. Der Gegner heißt TuSEM Essen. Nachdem der Nobody aus dem Osten im Halbfinale bereits den Favoriten Wallau-Massenheim, damals in Deutschland so etwas wie die Mannschaft der Stunde, aus dem Rennen geworfen hat, stellen auch die Westdeutschen keinen Stolperstein mehr dar. Für die Mannen von Trainer Lothar Doering beginnen Stunden der Glückseligkeit. Die mitgereisten Magdeburger Fans geraten außer Rand und Band.
Für Steffen Stiebler, damaliger Abwehrchef und heutiger Sportlicher Leiter der Magdeburger, unvergessene Momente. Für ihn, so gibt der 44-Jährige später zu Protokoll, rangiert der Pokalerfolg beim Final Four, rein stimmungsmäßig, sogar noch vor dem Champions-League-Triumph (2002) und der deutschen Meisterschaft (2001). „Als wir in der Alsterdorfer Sporthalle aufgetaucht sind, um uns fürs Halbfinale warmzumachen, standen unsere Fans plötzlich Kopf. Das Spiel auf der Platte war nur noch Nebensache. Unbeschreiblich! Wenn ich daran denke, bekomme ich noch heute eine Gänsehaut.“

Genau diese Gänsehaut, die erwartet den SC Magdeburg in knapp drei Wochen erneut. Wieder hat der Traditionsklub von der Elbe, im Vorjahr erst in einem hochdramatischen Herzschlagfinale im Siebenmeterschießen an der SG Flensburg-Handewitt gescheitert, den Sprung ins ersehnte Final Four in Hamburg geschafft.  Und mit dem gegen den Bundesliga-Abstieg kämpfenden Bergischen HC  hat der SCM einen Halbfinal-Kontrahenten erwischt, der viele in der Börde schon vom fast sicheren erneuten Einzug ins Endspiel (dort würde dann einer der Hochkaräter Rhein-Neckar Löwen oder Flensburg warten) träumen lässt.

Doch da sagt einer laut und deutlich: Stopp erstmal! Für Trainer Bennet Wiegert sind die Bergischen alles andere als ein Selbstläufer. „Natürlich ist das, verglichen mit den Löwen oder Flensburg, ein gutes Los“, räumt er im Gespräch mit Magdeburg Kompakt ein. „Aber da heißt es, der Bergische HC wäre unser Glückslos, aber das sind wir für den BHC doch genauso. Dieses Spiel muss erst mal gespielt und gewonnen werden.“ Zumal die Männer aus Wuppertal und Solingen sich ganz gezielt auf diese Partie vorbereiten können, während es für den SCM ab dem 16. April nahezu im Drei-Tage-Rhythmus Richtung Hamburg geht. Neben den Bundesliga-Partien gegen Eisenach und Flensburg kommen auf dem Weg nach Hamburg (30. April/1. Mai) noch zusätzlich zwei  schwere Viertelfinal-Begegnungen im EHF-Cup gegen Frisch Auf Göppingen hinzu. „Es ist ein unglaublich wichtiger Monat für uns“, sagt Kapitän Fabian van Olphen. „Die Bundesliga ist unser Tagesgeschäft. Über die Spiele können wir uns viel Selbstvertrauen für das Viertelfinale im EHF-Cup und das Final Four im DHB-Pokal erarbeiten. Ich freue mich unglaublich auf die Duelle mit Göppingen und die Pokal-Endrunde in Hamburg.“ Der Niederländer hat dafür sogar die Einsätze in seiner Nationalmannschaft abgeblasen: „Es war vernünftiger, in Magdeburg zu bleiben und für die bevorstehenden schweren Aufgaben meine Verletzungen (Achillessehne, Nasenbeinoperation, d.Red.) richtig auszukurieren.“

Die Tatsache, dass sein Team noch in zwei Pokalwettbewerben vertreten ist, bucht Wiegert zu Recht als einen Erfolg – zumal der Verein in der Bundesliga deutlich hinter den Erwartungen geblieben ist (der Vorjahrsvierte rangiert derzeit nur auf Tabellenplatz zehn). Seinem Vorgänger, dem Isländer Geir Sveinsson, kostete diese Erfolglosigkeit im vergangenen Dezember sogar den Trainer-Job. Weiterer positiver Nebeneffekt für Wiegert: Nach jetzigem Erkenntnisstand wäre das Erreichen des deutschen Pokalfinales gleichbedeutend mit einer erneuten Qualifikation für einen internationalen Wettbewerb (EHF-Cup) in der Saison 2016/17.

Und es gibt noch eine Möglichkeit, Magdeburg auch in der nächsten Saison auf der europäischen Handballkarte präsent sein zu lassen. Dann nämlich, wenn der EHF-Cup in diesem Jahr gewonnen wird. Die Chance dazu ist jedenfalls noch gegeben. Da muss allerdings zunächst im Viertelfinale (23./27.April) der deutsche Konkurrent aus Göppingen ausgeschaltet werden. Wiegert dazu: „Es ist sicher ein leichter Vorteil für uns, dass wir als Gruppensieger im Rückspiel den Heimvorteil haben.“ An den Pfingstfeiertagen geht es dann im französischen Nantes im Final-Four-Turnier um die Wurst.

Bei aller Tristesse, die sich vor allem in den Herbstmonaten im Bundesliga-Alltag breitmachte, für Wiegert ist, wie gesagt, die Saison noch längst nicht vorbei: „Im Gegenteil, die entscheidenden Spiele liegen noch vor uns.“ Gut 100 Tage war er im Amt, als sich Magdeburg Kompakt dieser Tage mit ihm traf. Eine Gelegenheit, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. In 16 Pflichtspielen stehen dabei sieben Siege, vier Unentschieden sowie  fünf Niederlagen zu Buche. „Zahlen sind das eine, das Gefühl das andere“, merkt er dazu an. Und dieses Gefühl sagt ihm, dass „ich nach wie vor der richtige Trainer für diese Mannschaft bin. Ich spüre das Vertrauen der Mannschaft und denke, dass ich ihr genügend Impulse geben kann, um sie weiter nach vorn zu bringen.“

Trotz der Pokalerfolge – in seinem ersten Spiel überhaupt gelang im Dezember gleich der Einzug ins deutsche Final Four – weiß der 34-Jährige, „dass längst nicht alles rund läuft“.  Es sei noch zu viel „Verunsicherung spürbar, es fehlt uns die Sicherheit. Negativerlebnisse ziehen die Mannschaft noch zu schnell herunter.“ Es ist also vor allem die mangelnde Konstanz des Teams, die dem Coach Sorgen bereitet. „Daran müssen und werden wir weiter arbeiten. Und deswegen möchte ich auch noch einmal betonen, dass wir die Bundesliga-Saison nicht abschenken, auch wenn nach oben hin nicht mehr viel machbar ist. Wir müssen über die Erfolge in der Liga Sicherheit und Selbstvertrauen holen und mit Blick auf die Endspiele im Pokal versuchen, einen positiven Rhythmus reinzubekommen – und uns dann vom Gefühl des Gewinnen-Wollens und des Gewinnen-Könnens tragen lassen. Generell gilt: Ich möchte jedes Spiel erfolgreich gestalten.“

Auf die Frage, wo er die deutlichsten Fortschritte des Teams seit seinem Amtsantritt sieht, meint Wiegert: „Ich denke, dass wir meine Vorstellungen von einem Abwehrsystem ganz gut umgesetzt haben und die individuellen Stärken der Spieler noch mehr nutzen. So beispielsweise die große Physis eines Finn Lemke oder Zeljko Musa. Da stellen wir inzwischen einen 6:0-Riegel, der nicht so offensiv wie früher agiert und durch die körperliche Präsenz den gegnerischen Angriff zu mehr Fehlern und Fehlwürden provoziert. Und wir haben unser Tempospiel deutlich forciert.“ Alles im allem sieht er sein Team „definitiv besser als Platz zehn. Für mein Empfinden gehören wir ins obere Drittel.“

Stichwort Finn Lemke. Der 2,12-Meter-Abwehrriese, der sich in seinen ersten Monaten in Magdeburg unheimlich schwer tat, wohl auch nicht das volle Vertrauen von Trainer Sveinsson besaß und von einigen Fans schon als Fehleinkauf gesehen wurde, war dann im Januar – wie Phönix aus der Asche – zu einem der Stars des sensationellen deutschen Europameisterschafts-Erfolges emporgestiegen. „Ich sehe Finn nicht nur als Abwehrspieler“, erklärt Wiegert. Und überrascht damit den Außenstehenden schon ein wenig. Er sieht ihn nicht in einer derartigen Rolle, wie sie etwa ein Steffen Stiebler oder ein Oliver Roggisch zu ihren Zeiten einnahmen – als reiner Abwehr-Organisator . „Finn verfügt über eine enorme Qualität im Angriff“, bekräftigt der Coach. „Dieses Potenzial dürfen wir nicht wegschmeißen.“ Die ganze Sache hat nur einen kleinen Haken. Wiegert: „Ich kann ihn kaum vorbereiten, weil er durch die Auswahlverpflichtungen so selten da ist. Ich wünschte mir, ihn viel öfter im Training zu haben.“ Was dann wäre, lässt der Trainer offen.

Kompakt

Am 27. April 2002 schrieb der SC Magdeburg Geschichte, als erste deutsche Mannschaft gelang es die Champions League zu gewinnen und damit zum dritten Mal den Europapokal der Landesmeister, der ab 1994 von der Champions League abgelöst worden war. Im Finalrückspiel bezwang man unter Coach Alfred Gislason Fotex Veszprém vor fast 8000 Zuschauern in der aus allen Nähten platzenden Bördelandhalle mit 30:25 (15:10). Das Hinspiel hatten die Ungarn mit 23:21 (9:8) für sich entschieden. 20.000 Fans feierten anschließend nach einem Autokorso durch die Stadt ihre Helden auf dem Alten Markt.
Der zweite internationale Pokalerfolg nach der Wende gelang dem SCM im Jahr 2007, als unter Trainer Bogdan Wenta der EHF-Pokal gewonnen wurde. Im Finale bezwangen die Magdeburger in zwei Partien den spanischen Vertreter BM Aragon (30:30/31:28). Es war zugleich der neunte internationale Titel der Vereinsgeschichte. Vor der Wende hatten die Elbestädter den Europapokal der Landesmeister 1978 (28:22 gegen Slask Wroclaw) und 1981 (23:25 und 29:18 gegen Slovan Ljubljana) geholt. Die Vereins-EM gewann man 1981, 2001, 2002, den EHF- Pokal zusätzlich 1999 (CBM Valladolid) und 2001 (RK Metkovic). Hinzu kam ein 2. Platz beim Golden Globe, der sogenannten Vereins-WM (2002).