Wie der Magdeburger Behindertensportler Ali Kardooni Rückschläge meisterte und nun als Beispiel für Integration gilt.
Von Rudi Bartlitz
Langsam senkt sich die Dunkelheit über die Zollelbe.
Draußen auf dem Fluss, im leichten Nieselregen, bahnt sich ein einsamer Paddler seinen Weg. In seinem weißen Kanu schrubbt Alireza Kardooni, Behindertensportler des SC Magdeburg, Kilometer um Kilometer – begleitet nur von einem Motorboot, aus dem Trainer Herbert Laabs seine Anweisungen gibt. „Ja, wir beiden sind oft abends die letzten, die das Bootshaus auf dem Werder verlassen“, lacht der 37-Jährige kräftige Athlet. Denn von nichts kommt nichts. Keiner weiß das besser als Ali, der gebürtige Iraner. Das war so, als er noch als Diskuswerfer bei Paralympischen Spielen und Weltmeisterschaften mit der Elite der Behindertensportler die Kräfte maß. Das ist jetzt so, da er nach dem Umstieg ins Kanu neuen sportlichen Ruhm anstrebt. Und das war so, als er sich fast ein Jahrzehnt lang um die deutsche Staatsbürgerschaft bemühte. Aber der Reihe nach.
2004 gelangte Alireza Kardooni, der sich damals noch Ali Ghardooni schrieb, auf verschlungenen Wegen aus seiner iranischen Heimat nach Deutschland. „Ich ging allein“, sagt er rückblickend. „Meine Eltern und meine Verwandten leben weiter im Iran. Das Motiv, nach Deutschland zu gehen, war einzig und allein der Sport“, erklärt der Mann, der früh an Kinderlähmung erkrankt war, dessen rechtes Bein seither steif ist. „Ich wollte mich von meiner Erkrankung nicht erdrücken lassen, wollte im Sport etwas erreichen, wollte mich mit den Besten messen. Mir war bald klar: Als Behinderter war das im Iran nicht möglich.“
Mit aller Energie machte sich Ali in Deutschland ans Werk, lernte, wo es etwas zu lernen gab. „Und das nicht nur im Sport, wo ich, das muss ich unbedingt loswerden, beim SCM sehr gut aufgenommen wurde. Ich wusste von Anfang an aber ebenso: Wenn ich in diesem Land leben, etwas erreichen und akzeptiert werden will, dann muss ich zuerst die deutsche Sprache lernen.“ Also kniete er sich rein. Dabei blieb es nicht. „Ebenso schnell wurde mir bewusst, ich muss mich mit deutscher Kultur auseinandersetzen, muss wissen, wie die Gesellschaft funktioniert. Das war für mich als Mensch mit einem körperlichen Handikap zusätzlich schwer. Das hat enorme Kraft gekostet. Aber ich wusste: Ohne diese Mühen wird es nicht gehen. Heute weiß ich, es hat sich gelohnt.“
Gelohnt haben sich für Ali allemal auch die Mühen im Wurfring und in den Krafträumen. Schon vier Jahre nach seiner Übersiedlung nach Deutschland startete der Iraner mit einem vorläufigen deutschen Pass für das schwarz-rot-goldene Team bei den Paralympischen Spielen 2008 in Peking. „Neben dem Weltmeistertitel, mit dem ich 2009 aus Indien zurückkam, war der vierte Platz dort mein größter sportlicher Erfolg.“ 2012 vertrat er Deutschland bei den Ringe-Spielen in London. „Da war ich schlecht, wurde nur Neunter“, wurmt es ihn noch heute. Ebenso wurmte ihn, dass er – obwohl er inzwischen perfekt deutsch sprach, seine Berufsausbildung als Kaufmann für Bürokommunikation beendet hatte und einen deutschen Führerschein besaß – sage und schreibe elf Jahre auf den Tag warten musste, bis ihm die Urkunde überreicht wurde, die ihn zum deutschen Staatsbürger machte. „Das war einer der schönsten Tage in meinem Leben. Der wiegt die Warterei auf, ich bin allen dankbar, die mir zur Seite standen.“ Und dann fügt er in bestem Hochdeutsch an: „Alles andere ist Schnee von gestern.“ Nachdem er zweimal mit einer Sondergenehmigung bei den Weltspielen der Behinderten für Deutschland angetreten war, sollten die Spiele in Rio in diesem Jahr für Ali Kardooni etwas Besonderes werden: Er wollte erstmals mit einem „richtigen“ Dokument dabei sein. Doch dann machte der internationale Behindertensportverband einen Strich durch die Rechnung: Die Schadensklasse, in der der Magdeburger im Diskuswerfen antreten wollte, wurde zwei Jahre vor dem Wettkampf aus dem Programm der Spiele gestrichen.
Also disponierte er, das Ziel Rio fest vor Augen, kurzerhand um und klopfte im Bootshaus auf dem Werder an die Tür: Aus dem Leichtathleten wurde ein Kanute. Ein Canadier-Fahrer, genauer gesagt. Das sind die, die ihr Boot mit einem Stechpaddel vorantreiben – und, das ist die große Kunst, gleichzeitig auch steuern. „Die nötige Kraft und Schnelligkeit dafür bringe ich mit, mit der Ausdauer quäle ich mich bis heute“, räumt Ali ein. Und wie war es beim allerersten Mal in dem schmalen, über sieben Meter langen Kanu? „Ich habe gezittert. Nicht aus Angst, aber weil ich das Gefühl hatte, nicht ich beherrsche das Boot, sondern es mich.“ Gekentert ist er im Rennen noch nie so richtig. „Nur einmal bin ich aus dem Boot gerutscht, aber das war erst hinter der Ziellinie.“
Irgendwann schlug das Schicksal wieder zu, diesmal durch Verantwortliche des internationalen Para-Verbandes. Die Disziplin, auf die sich Kardooni spezialisiert hatte und für die ihm die SCM-Kanuabteilung extra für 3.500 Euro ein sogenanntes Outrigger-Boot (dabei soll ein Ausleger, quasi ein zweiter Rumpf, das Kentern verhindern) besorgt hatten, fand sich plötzlich nicht mehr im Olympiaprogramm.
„Ja, da war ich enttäuscht“, verzieht Ali ein wenig das Gesicht. „Aber dann habe ich mir gesagt: Was soll’s, du hast bisher nicht aufgegeben, das machst du auch diesmal nicht.“ Die Motivation war ungebrochen. Und so steckte die Kraftmaschine zusammen mit seinem Trainer („Er opfert so viel Zeit für mich, weil ich in der Regel erst spät nachmittags oder am Abend nach meiner Arbeit aufs Wasser kann.“) neue Ziele ab: „2016 sind es die Weltmeisterschaften im Mai in Duisburg. Da will ich mich mit gelungener Qualifikation im April als Neuling gut präsentieren. Einen Platz unter den besten sechs peile ich an.“
Dafür ist er nahezu jeden Tag auf dem Wasser, „so ein bis eineinhalb Stunden“. Doch vor dem Training, da lässt Kardooni keine Zweifel aufkommen, steht seine Arbeit. „Die hat Priorität. Ich bin froh, dass ich eigenes Geld verdienen kann, dafür bin ich vielen in Magdeburg sehr dankbar.“ War er bisher an der Fachhochschule Magdeburg-Stendal angestellt, übernahm er ab 1. April einen Job, der ihm wie auf den Leib geschneidert scheint: Er wird, nachdem er selbst eine „Bilderbuch-Integration“ hingelegt hat, im Landesverwaltungsamt bei der Eingliederung von Flüchtlingen helfen. Ihm kommt entgegen, dass er nicht nur Persisch, sondern auch Arabisch spricht – von Deutsch und ein paar Brocken Englisch ganz zu schweigen. „Ich möchte etwas von dem zurückgeben, was ich in Deutschland empfangen habe. Ich will Neuankömmlinge bei ihrer Eingliederung unterstützen.“ Was er nicht sagt: Wenn sich die meisten der Asylsuchenden auch nur einen Teil von dem annähmen, was der Mann aus dem Iran in den letzten gut zehn Jahren hierzulande praktiziert hat, ihn als ein Beispiel für gelungenen Eingliederung ansähen – dann wäre tatsächlich schon sehr viel gewonnen.
Ali Kardooni selbst verschwendet indes kaum Gedanken an eine Rückkehr in die Heimat. „Ich war 2015, nach elf Jahren, erstmals wieder im Iran“, erzählt er. „Es ist schön, Eltern und Geschwister wiederzusehen. Aber ganz ehrlich: Nach 14 Tagen überkommt mich Heimweh nach Magdeburg. Das ist inzwischen meine Heimat. Hier will ich nicht mehr weg.“ Wenn sie nicht wahr wäre (und es Dutzende Zeugen dafür gäbe), man würde die Geschichte wohl nur schwer glauben wollen …