Heimat zwischen Abwendung und Zuwendung
Als 19-jähriger Teenager wollte ich unbedingt raus aus Magdeburg. Die Stadt erschien mir schmutzig, spießig und für meine Ideen klein und geistig viel zu eng. Was ich vor 30 Jahren nicht sehen wollte, war die eigene geistige Enge.
Ost-Berlin war damals aus meiner Sicht nicht nur groß, es fühlte sich offener an, vielfältiger, inspirativer und kulturell schier unerschöpflich. Zehn Jahre lebte und lernte ich in diesem Schmelztiegel an Möglichkeiten für Unternehmungen und Begegnungen. Mauerfall und Einigungsprozess inmitten dieser zerschnittenen Metropole zu erleben – das war wie der Atem großer Geschichte. Magdeburg und seine Menschen existierte in einer anderen Welt. Meine seltenen Besuche in der Heimatstadt galten Familie, Freunden und Bekannten. Gern reiste ich wieder ab. Irgendwie hatte sich für meinen Blick kaum etwas verändert.
Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen von 1990 rissen mein Leben wie das vieler anderer aus den Fugen. Jetzt war ich wieder öfter in der Heimat. In unsicheren Zeiten mag es erscheinen, als könne der Ort eigener Wurzeln ein vertrautes Fundament schenken. Plötzlich steckte ich im Strudel Magdeburger Veränderungen. Den schmerzlichen Niedergang großer Industrietradition – die konnte ich als junger Mann kaum angemessen bewerten – begleitete eine nie wieder erlebte Aufbruchsstimmung. Nach und nach wuchsen auf einstigen Freiflächen sichtbare bauliche Zeichen einer neuen Zeit. Alles Neue, Mutierte und Sanierte wurde irgendwie gern mit typisch Magdeburger Art bekrittelt oder wenigstens stumm und skeptisch hingenommen. In mir wühlte noch der Traum, die Stadt wieder zu verlassen. Vielleicht einen zweiten Anfang in Berlin zu suchen. Doch Magdeburg und die inzwischen entstandenen privaten und beruflichen Bindungen hatten einen Klebstoff erzeugt, der mich hielt.
Anfang des neuen Jahrtausends hatte sich die Heimat in meinem inneren Zwiespalt zwischen Sehnsüchten nach einem anderen Ort und vertrauter Sesshaftigkeit durchgesetzt. In meinem Bewusstsein musste etwas geschehen sein. Vielleicht könnte man es so beschreiben: Ich und Magdeburg – wir haben uns in den Jahren vertraut gemacht. Dazu muss ich mir auf jeden Fall eingestehen, dass die Stadt mit ihren vielen neuen Kleidern Eindruck geschunden hatte. Mit Grün, Glanz und Gemütlichkeit umschmeichelte sie mein Herz. Erfolgreich. Seither begegne ich meiner Stadt mit anderen Augen. Sichtbar werdende Mängel besehe ich heute mit Milde. Vielleicht sogar mit einer gewachsenen Gewissheit, dass solche Defizite nicht ewig bleiben werden. Selbst der oft beschriebenen Magdeburger Art, allem Neuen oder Ungewöhnlichen nicht gleich mit herzergreifender Euphorie zu begegnen, trete ich mit Gelassenheit entgegen. Bin ich doch sicher selbst Ausdruck dieser regionalen Wesensart.
Mit zunehmender Lebenszeit wächst die eigene Erfahrung mit der Stadt und ihren Menschen. Es gibt gute und schlechte. So wie das halt zum Leben gehört. Und ich habe über die Jahre gelernt, differenzierter auf das Magdeburger Sozialgefüge entlang der Elbe zu schauen. Immer wieder tauchte ich tiefer in die Geschichte ein, erzeugte mir Respekt vor der Lebensleistung vergangener Generationen, entdeckte verlorene Schätze, große Wunden und unzählige Zeichen für Engagement, Ideen und deren Realisierung. Nach dem ich meinen Frieden mit der Stadt gemacht hatte, begann ich sie zu lieben.
Ich suche auch heute gern andere Orte auf. Besehe mir deren Eigenheiten und Außergewöhnlichkeiten, egal, ob diese in kleinen oder in Ansiedlungen gewaltigen Ausmaßes zu finden sind. Aber daraus erzeuge ich kein Neid, einen in der Weise, dass ich bejammern würde, weil so etwas in Magdeburg nicht existiert. Heute hat meine Heimatstadt eigene Vorzüge hervorgebracht, so wie jeder Ort solche besitzt und eben auch Nachteile. Den perfekten Ort gibt es nicht.
„Magdeburger sind Heimscheißer“, sagte vor wenigen Tagen Mario Kallnik, der Manager des 1. FC Magdeburg. Mit diesen Worten wollte er keine Kritik ausschütten. Es war seine Liebeserklärung. So viel emotionale Bindung zum Sport, so viel Bodenständigkeit bei Menschen, die sich gegenseitig Kennen und gemeinsam stützen, sei ihm anderenorts nicht begegnet. Kallnik ist in Hoyerswerda aufgewachsen, hat in Berlin seine sportliche Karriere begonnen, war in Stuttgart aktiv und ist schließlich um die Jahrtausendwende in Magdeburg angekommen. Inzwischen gehört er hierher, wie jeder andere auch, bewegt mit und bringt sich offensichtlich gern ein.
In den letzten Jahren habe ich mehrere Erfahrungen mit Besuchern der Stadt gemacht. Darunter waren Braunschweiger, Berliner, Münchener und Hamburger. Überraschend waren dabei stets die positiven Reflexionen. Sie sahen hier ebensolche Besonderheiten, die es in ihrer Heimat nicht gibt. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichte kürzlich einen Beitrag über Magdeburg, der wie ein sympathischer Spiegel nach außen reichte.
Die Sichtweisen auf Magdeburg haben sich eben verändert. Übrigens auch die inneren, so wie meine. Unterschiedliche Betrachtungen findet man in unterschiedlichen Generationen. Noch leben einige Zeitzeugen, die Bilder ihrer Stadt vor der Zerstörung im Gedächtnis tragen. Von solchen Magdeburgern hört man natürlich häufiger die Klage über den großen Verlust an Schönheit und Pracht. Gleichsam gehören sie zu denen, die nach 1945 am Wiederaufbau mitwirkten. Aus wenigen Möglichkeiten und in Jahren der Entbehrung etwas Neues erschafft zu haben, das war sicher schwer. Nicht allem aus dieser Zeit kann man mit Stolz begegnen. Aber Magdeburg ist nicht stehengeblieben, wurde weiter gestaltet und entwickelt.
Meine vielleicht ungerechte Sicht hat sich transformiert, so wie sich die Stadt transformiert hat. Wer an einer Meinung über Magdeburg festhält, hat sich möglicherweise selbst wenig bewegt oder ist bisher ignorant gegenüber den Veränderungen gewesen. Das Gefühl zur Heimat hat offensichtlich umgeschlagen, hin zu mehr Zuneigung, Verbundenheit und Liebe. Magdeburger verharren genauso wenig in ihren Emotionen wie die Substanz, die Lebensadern und die Silhouette der Landeshauptstadt gleichgeblieben ist. Kinder der Stadt, die Mitte der 90er Jahre geboren wurden, haben ihren Lebensraum sicher erst nach dem Jahrtausendwechsel bewusst wahrgenommen. Sie kennen den grauen Schleier, der sich bis 1990 über alles gelegt hatte, nicht mehr. Das transformierte Magdeburg ist für sie schon eine Selbstverständlichkeit. Darunter mögen Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Stolz angewachsen sein.
Was mir manchmal noch mangelhaft erscheint, ist die Zurückhaltung, mit der Magdeburger Gefühle zur Heimat ins Land hinaustragen. Die Skepsis aus der Vergangenheit, den düsteren Nachhall aus Zerstörungserlebnissen und gesellschaftlichen Zwängen der DDR-Zeit kann man nicht einfach auslöschen. So wie jede persönliche Erfahrung im Leben eines Menschen mitschwingt, so wirken auch ungute Gefühle zur Stadt weiter. Aber sie sind nicht für die Ewigkeit, so wie Magdeburg nie ein Ort ewiger und unveränderlicher Substanz war und ist. Es ist manchmal wichtig, die eigene Sicht auf den Prüfstand zu stellen und Defizite nicht nur draußen an Fassaden und Plätzen zu suchen. Man kann dann vielleicht erkennen, dass die Sicht auf Magdeburg mehr mit eigenen Einstellungen und Erfahrungen zu tun hat, als mit der Stadt selbst. Das schenkt die Chance für Bewertungstransformation.
Thomas Wischnewski