Nach welchem Bilde?

schumannDer Erzieher schafft nicht Menschen nach seinem Bilde. In der Begegnung mit ihm soll der Zögling vielmehr zu sich selber kommen.“ Das schrieb der ansonsten nicht unumstrittene Bildungstheoretiker Erich Weniger 1948 in seinem Aufsatz „Bildung und Persönlichkeit“.
Sie sehen, der langsame Leser holt heute gewaltig aus. Aber es ist ja auch ein Dauerthema.

Und wenn ich mal in einer der Grundschulen mit Kindern arbeite, stehe ich immer noch staunend vor dem Phänomen, wie schultaschentragende Mütter oder Väter am liebsten bis in die Klasse ziehen, um den Sprössling bis zum Platz zu begleiten, dass ihm ja nichts passiere. Und nachmittags, wenn sie nicht die Kinder persönlich abholen, stehen Väter mit dem Fernglas am Fenster. Nein, das ist nicht übertrieben. Feinde, Feinde, nichts als Feinde umgeben dich. Die Eltern gehen mit ihren Sprösslingen in den Sandkasten – und, glauben Sie mir, irgendwann kriechen Vater oder Mutter mit dem fast Erwachsenen, der ja bereits lange pornoaufgeklärt ist, ins Bett, um „das Kind“ vor Schaden durch Freund oder Freundin zu bewahren. Mal ganz abgesehen davon, dass die Kinder für solche Dinge gar keine Zeit haben, weil sie, wenn sie nicht zum Tennis oder Fitness sind, zum Reiten, Ballett, Chinesisch- oder Betriebswirtschaftskurs gehen, ach, und da wäre ja noch der Orgelunterricht beim Domkantor oder der Klavierunterricht am Konservatorium. Chor ist ja auch noch. Die Netzwerke müssen geknüpft werden. Das sind die zielstrebigen Eltern. Bei anderen Eltern wiederum buhlt das kleine Kind um Aufmerksamkeit, die aber bei den Eltern hoffnungslos im Smartphone steckt. Was sie lernen, ist aufzupassen, nichts Natürliches anzufassen, denn das macht krank. Einige Eltern werden in Kindergärten ohnmächtig Zeuge des ungeheuerlichen Vorgangs, dass die Kinder in einem Schlammloch spielen. Und natürlich muss man in den Schulen die Kinder gegenüber schlechten Noten via Rechtsanwalt verteidigen, weil diese schlechten Noten ja lediglich der Ausdruck der schlechten Laune eines Lehrers oder einer Lehrerin sind, die in ihrem Beruf schlichtweg überfordert sein muss.
Die Erziehung unserer Kinder begann vor 37 Jahren. Meine Frau galt mit 24 Jahren bereits als Spätgebärende. Ich war fünfundzwanzig und fast erschlagen von der Aussicht, jetzt etwas tun zu müssen, worin ich überhaupt keine Übung hatte: Erziehen! Wir hatten Freunde im Westen. Die schmuggelten vorbereitenderweise Bücher in den Osten: Die Bibel der antiautoritären Erziehung, wie wir A.S. Neills Konzept von der selbstregulativen Erziehung missverstanden: „Summerhill“.  Ein Buch über partnerschaftliche Erziehung, gerade brandneu seinerzeit. Natürlich schaute ich auch noch mal im Makarenko nach. Und dann? Sah ich in den Spiegel. Da sah ich einen werdenden Vater, der sich sagte: Wenn ich mein Kind nach einem dieser Konzepte erziehen wollte, müsste ich mich von Grundauf ändern. Dazu war ich nicht bereit. Ich nahm die Bücher und stellte sie auf das oberste Regalbrett, ganz rechts, wo man eigentlich auch nicht mehr herankam. Der Schreihals, der dann auf die Welt kam, brachte uns eh an die Grenzen unserer Duldungsbereitschaft. Da wäre jegliches angelesene Lehrgebäude zu Staub geschrieen worden. Dass er die ersten Tage unablässig schrie, fand eine einfache Erklärung. Er hatte nach der Geburt seinen Schlafrhythmus nicht gefunden. Und wir lernten, dass meist alles eine ganz einfache Ursache hatte. Im übrigen: Wir waren jung. Wir hatten zu arbeiten. Die Kinder, nach dem ersten kam ein zweiter Sohn, liefen mit. Die gingen allein zur Schule, die spielten in Wald und Feld. Allein, bzw. mit ihren Freunden. Ja, sagen sie noch heute, ihr habt glücklicherweise wirklich nicht alles gewusst, was wir angestellt haben. Erziehungsfehler? Jede Menge. Könnte ich eine Liste zusammenstellen. Aber sie hatten, glaube und hoffe ich, etwas Entscheidendes: die Liebe ihrer Eltern, eine Menge Freiheit, einen kritischen Rückenhalt. Sie hatten keinen Freifahrtschein per se. Es waren nicht immer die anderen schuld, die Schule, die Menschen, die Politik. Die Erziehung war ein Lernfeld für uns alle, zum gemeinsamen Frühstück und zum gemeinsamen Abendbrot besprochen. Und natürlich gab es abends mindestens eine Geschichte. Kaum Fernsehen. Andere Medien, außer Büchern, ohnehin nicht. Doch, manchmal Radio.
Jetzt, während der Unwetter in Bayern, erzählte mir mein Ältester, der Steinmetz ist: Bei seinem Kollegen in Fuchsstadt gab es eine Flut, die einen halben Meter Schlamm in Garten und Ausstellungsgelände und 40 cm Schlamm in die Werkstatt drückte. Zwei Tage haben sie gebraucht, um mit dem Lkw die Schlammmassen vom Hof zu kriegen. Das Angebot des Kollegen, mein Sohn möge wieder nach Hause fahren, weil an Arbeit jetzt nicht zu denken sei, erst müsse  Gelände und Werkstatt beräumt werden und das könne er nicht bezahlen, weil er auch keine Hochwasserversicherung gehabt habe – bis zu diesem Tage gab es in Fuchsstadt kein Hochwasser – schlug er aus. Natürlich helfe ich dir, sagte er. Verbuch das einfach unter bruderschaftlicher Hilfe. Er weiß, wie sein Bruder auch, worauf es im Leben ankommt. Er weiß, dass Solidarität die Grundlage für den Konsens einer Gesellschaft bildet.
Natürlich hatten wir es in der Erziehung einfacher. Wir hatten beispielsweise keine Zeitung mit vier Buchstaben, die aus der Welt ein Gruselkabinett macht. Wir mussten unsere Kinder nicht dauerbehüten, weil wir keine Angst hatten, weil wir aber auch wussten: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Der Eindruck, dass heute Kinder gefährdeter sind als früher, ist ein medial hergestellter: Die Entführung eines Kindes wird wieder und wieder vor allem in dieser besagten Zeitung mit den vier Buchstaben aus den verschiedensten Sichten berichtet. So entsteht der Eindruck, dass Kinder über Gebühr gefährdet sind. Die Kriminalstatistik sagt etwas anderes. Von daher: Nicht nur in dieser Hinsicht, überhaupt ist Gelassenheit im Umgang mit Kindern eine gute Strategie. Sie ermöglicht ihnen genügend Freiraum, um erwachsen werden zu können. Sie setzt aber auch voraus, dass wir als Eltern wissen, was wir tun. Einfach wieder zu leben, zu genießen und den Kindern das Recht zu gewähren, Kind sein zu dürfen: Also spielen, spielen, spielen statt sie einem permanenten Optimierungsdruck auszusetzen. Mich interessiert nicht, ob mein Sohn einen Mercedes fährt. Aber das er seine solidarische Hilfe anbietet, das macht mich als Vater stolz. Vielleicht hat man es ja dann geschafft, dass „der Zögling vielmehr zu sich selber“ gekommen ist. Oder, besser, vielleicht hat er es dann geschafft. Denn er war glücklich, trotz der Schinderei. Weil er einen Freund gefunden hat.