Das Magdeburger Profi-Box-Team SES stellt sein Gym seit einigen Jahren auch Jugendlichen aus der Nachbarschaft zur Verfügung. Seither trainieren Berufsboxer und junge Amateure im Plattenbauviertel nebeneinander. Ein in dieser Form in Deutschland bisher einzigartiges Projekt.
Von Rudi Bartlitz
Die Halle atmet Schweiß, der Geruch schwerer körperlicher Arbeit liegt regelrecht in der Luft. Der Blick des Jungen am Sandsack geht rüber in den Ring. Dort oben hämmert Tom Schwarz, der Junioren-Weltmeister im Schwergewicht, mit schweren rechten und linken Händen auf Cheftrainer Dirk Dzemski ein. Weiter hinten mühen sich Jugendliche, den überdimensionalen Medizinball möglichst weit zu stoßen. Alltagsbilder aus dem Gym des Magdeburger Profi-Teams SES in Olvenstedt.
Hier, in der Sporthalle mitten im Plattenbauviertel, üben professionelle Faustkämpfer und junge Amateure oft zusammen – ziemlich ungewöhnlich in dieser Branche, die normalerweise nur auf Erfolg und Geld ausgerichtet ist. Begonnen hat das Ganze vor etwa zwei Jahren. Die ursprüngliche Idee dazu kam von SES-Chef Ulf Steinforth. „Warum soll unser modernes Gym nur mehr als einer Handvoll Berufsboxern zur Verfügung stehen“, fragte er damals – und lud Kinder und Jugendliche aus der Nachbarschaft ein, sich im Duell Mann gegen Mann zu erproben. „Das ist eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung, und sie sind runter von der Straße.“ Am Anfang war das „ohne jeden Anspruch, einfach der Sache wegen“. Steinforths Leitsprüche („Wir müssen etwas für den Nachwuchs tun“ und „Ich möchte der Stadt etwas zurückgeben“) bestehen zwar immer noch, doch er denkt inzwischen ein wenig weiter: „Natürlich haben wir auch Träume. Warum soll nicht jemand vom SV Lindenweiler einmal bei einer internationalen Meisterschaft starten, vielleicht sogar bei Olympia?“
Seit jenen Tagen wirkt das Gym wie ein Magnet. Eingeweihte wissen von drei Brüdern zu berichten, die mehrmals in der Woche oft schon eine halbe Stunde vor Trainingsbeginn vor der Halle nur darauf warten, dass es endlich losgeht. Schnell entstand beim hier im Westen der Landeshauptstadt beheimateten SV Lindenweiler eine eigene Abteilung Boxen. „Was SES da auf die Beine gestellt hat, ist wohl einmalig in Deutschland“, sagt Abteilungsleiter Axel Schimschar. „Unser Motto `Trainieren wie die Profis` spricht eben viele an.“
Und das Schöne daran – es ist mehr als nur ein prima Werbe-Gag. Das Motto wird gelebt. Nicht nur, dass die Lindenweiler-Boxer sich quasi Schulter an Schulter mit den Profis schinden, diese haben auch so manch wertvollen Tipp parat. „Oft schauen Ex-Weltmeister Robert Stieglitz, Trainer Dzemski, Juniorenweltmeister Schwarz oder Dominic Bösel bei den Jungen kurz zu und geben Hinweise. Sie sehen die Profis nahezu tagtäglich, wollen so werden wie die“, erzählt Schimschar. „Oder die SES-Jungs gehören zu den ersten Gratulanten, wenn Erfolge gefeiert werden können.“ Bei der Vereins-Weihnachtsfeier hat Schwarz im zünftigen Kostüm den Knecht Ruprecht gegeben.
45 Athleten (rund ein Drittel von ihnen steht im Wettkampf-Modus) zählt die Abteilung Boxen des SV Lindenweiler mittlerweile. Damit hat sie sich zu einer der größten in Sachsen-Anhalt gemausert. „Und zur erfolgreichsten obendrein“, ergänzt Trainer Bastian Kirchner. „Zu den diesjährigen Landesmeisterschaften in Halle/Bitterfeld haben wir 14 Akteure entsandt. Sie kamen mit dreimal Gold, viermal Silber und viermal Bronze zurück.“ Sein 14-jähriger Sohn Kevin schaffte es bei den Kadetten in der 50-Kilo-Klasse sogar schon bis zu den deutschen Meisterschaften.
Bevor es jedoch mit einem Meisterschafts- oder Wettkampfstart soweit ist, testen Kirchner und seine Trainerkollegen Ernst Patze, Mirko Abshagen, Uwe Pabst und Andrej Swiridow – die übrigens alle ehrenamtlich tätig sind – erst einmal, ob die Jungen, die da an die Tür klopfen, überhaupt fürs Boxen geeignet sind. Kirchner: „Wir machen sozusagen Schnupperkurse. Da kann sich jeder ausprobieren, und wir sehen, ob jemand geeignet ist. Wir schicken zunächst einmal prinzipiell keinen weg.“ Was Kirchner erst auf Nachfrage sagt: „Das ist alles zunächst einmal unentgeltlich.“
Wer sich im Olverstedter Gym ein wenig näher umsieht, erkennt schnell, dass ein Teil der hier Trainierenden einen, wie es oft heißt, Migrationshintergrund besitzt. Am Infobrett, wo neben den Übungsplänen auch Zeitungsartikel über Wettkampfteilnahmen geklemmt sind, wimmelt es nur so von Vornamen wie Armando, Cerun, Hassan, Fidan und Amarildo. „Klar“, sagt Abteilungsleiter Schimschar und trifft damit auch eine Intention von SES-Chef Steinforth, „sie sind bei uns willkommen. Wir kümmern uns um sie.“ Trainer Kirchner wirft den Namen Souleymane Magassa in die Diskussion. Der damals 17-Jährige flüchtete aus Mali seinerzeit allein nach Deutschland, nachdem sein Vater in den Kriegswirren des afrikanischen Staates getötet worden war. „Er kommt seit einem halben Jahr zu uns. Inzwischen sind wir hier beim SV, so sagt er selbst, so etwas wie sein Leben geworden. Er hat momentan eigentlich nur das Boxen. Souleymane ist zuverlässig, versäumt keine Übungsstunde. Er bestreitet sogar schon Wettkämpfe.“ Und dann fügt der Coach hinzu: „Und manchmal sagt er Papa zu uns.“
Der SV Lindenweiler demonstriert damit im kleinen, was der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) in seinem jüngsten Sportentwicklungsbericht für die gesamte Bundesrepublik herausstellte: Die Wahrscheinlichkeit, Migranten als Mitglieder für Sportvereine zu gewinnen, steige signifikant, „wenn Fußball als Sportart angeboten wird – gefolgt von Boxen, Judo und Tischtennis.“ Die meisten Vereine, die sich Migranten und Flüchtlingen öffnen, stellen nahezu übereinstimmend fest, dass die Betroffenen beim Faustkampf ein wenig Ablenkung finden und ein respektvolles Miteinander lernen. Einige, die einst nach der Vertreibung aus ihrer Heimat auf diese Weise anfingen, haben sich inzwischen sogar im Profilager einen Namen gemacht. Muamer Hukic und Adnan Catic kamen einst aus Ex-Jugoslawien nach Deutschland. Unter den Namen Marco Huck und Felix Sturm eroberten sie mehrfach WM-Gürtel bei den Preisboxern. Bei den Frauen tat es ihnen die aus Armenien stammende Susi Kentikian gleich.
Ermutigt durch die Arbeit mit Migranten weiteten die Boxer aus Lindenweiler inzwischen ihren Aktionsradius sogar aus: In einem zweiten betreuten Projekt versuchen sie in Burg Interessierte für den Faustkampf zu gewinnen. Auch hier ging Gründungsvater Ernst Patze voran, als Zugpferd hatte er einst Ex-Weltmeister Robert Stieglitz im Gepäck. Abteilungschef Schimschar: „Wir wollen unter anderem dabei helfen, Aggressionen abzubauen.“ Dabei ist es jedoch nicht geblieben, inzwischen schaut man sich nach dem einen oder anderen Talent um …
Denn der Leistungsgedanke, das ist etwas, was Schimschar sehr am Herzen liegt. „Aus den Kinderschuhen sind wir jetzt raus. Nun versuchen wir, das Ganze noch mehr zu strukturieren.“ Dreimal in der Woche fliegen in den frühen Abendstunden in Olvenstedt die Fäuste. Der Abteilungschef: „Wir streben irgendwann einmal an, dass einer unserer Boxer bei deutschen Meisterschaften oder noch höher auf dem Siegerpodest steht.“ Dazu hat sich der Verein die Unterstützung einer ganzen Schar von Sponsoren gesichert. „Ohne sie geht es nicht“, weiß Schimschar. Für die vielen Wettkampfreisen steht mittlerweile sogar ein eigener kleiner Transporter zur Verfügung. „Welche guten Bedingungen wir hier in Magdeburg bei SES haben, das weiß man erst so richtig zu schätzen, wenn man sich einmal anderswo umschaut,“, wirft Trainer Kirchner ein. „Dort müssen sich die Sportler im Training oft mit Räumen begnügen, die kaum mehr als ein Abstellraum sind.“