Erinnerungen an eine einfache Kindheit.
Von Tina Heinz
Hitze, vorbeifliegendes Grün der Landschaft. Kein Lüftchen regt sich im Wageninneren. Stillstand, flirrende Luft über dem Asphalt der Straße. Das Fenster heruntergekurbelt.
Kein Lüftchen regt sich im Wageninneren. Stau, Staub, Staunen. Über die Soldaten, die in voller Montur an der Grenze patrouillieren und die Autos kontrollieren. Ein kurzes Nicken mit starrem Gesichtsausdruck und die Reise kann fortgesetzt werden. Mit jedem weiteren Kilometer, den wir nach neunstündiger Fahrt hinter uns lassen, steigt die Aufregung, die Freude auf die Menschen, die mir die Kindheit versüßen und auf alles, was ich mit Sommer in Ungarn verbinde.
Ferien im Juni, Juli, August – das duftet nach Regen, der auf erhitzten, staubigen Boden fällt. Nach Pappeln, die das morastige Donauufer säumen. Nach Strudel, den Oma selbst bei 38 Grad Außentemperatur in ihrer kleinen Küche bäckt. Ferien in den Sommermonaten – das schmeckt nach eben diesem Strudel, nach süßen Kirschen, reifen, von der Sonne gewärmten Pfirsichen und Melonen. Nach Eis, das viel zu schnell schmilzt und dabei Hände und Mund verklebt. Sommerferien – das ist das Gefühl von Sand zwischen den Zehen. Vom kühlen, klaren Wasser des Baggersees, das bei jedem Eintauchen kurz den Atem stocken lässt. Es ist das Gefühl von Geborgenheit und Zufriedenheit. Lachen. Träumen. Kind sein dürfen. Ganz einfach …
So einfach wie für mich ist es für Oma und Opa allerdings nicht. Oma macht sich Tage im Voraus Gedanken, wie sie mich am besten verköstigt. Immer die Frage an mich gerichtet, ob ich mir etwas wünsche. Doch so viele Lieblingsgerichte, wie Oma auf den Tisch zaubert, kann ein Kind gar nicht haben. Hühnchen in Paprikasoße, Nudeln mit Mohn, Lángos, Grenadiermarsch. Und jede Menge frisches Obst und Gemüse aus dem Garten oder vom Markt. Nie hätte Großmutter auf meinen Rat bei der Speisenauswahl verzichtet. Und das Motto „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“ exis-tiert in ihrer Küche sowieso nicht.
Opa hingegen bleibt der Küche fern, bis es Zeit ist zu essen. Er ist allerdings stets damit beschäftigt, sich das passende Programm für die nächs-ten Tage auszudenken. Denn mit ein paar Kindersendungen im Vorabendprogramm ist das technische Ablenkungsangebot zu dieser Zeit erschöpft. Schäufelchen, Eimerchen und Förmchen sind meine Spielekonsole. Die Steine an der Donau mein Smartphone. Um den Fluss zu erreichen, wählt mein Großvater für jeden Tag eine andere, aus kindlicher Perspektive betrachtet, abenteuerliche Strecke mit dem Fahrrad. Durch riesige Felder von Sonnenblumen, die so hochgewachsen sind, dass ich mich darin verstecken kann. Vorüber an hohem Schilf, das beim Vorbeifahren zahlreiche Vögel freilässt.
Heute dauert es nur wenige Minuten, um vom Haus meiner Großeltern mit dem Fahrrad die Donau zu erreichen. Damals gleicht es einer Weltreise – geschmückt mit Opas Geschichten über Krieg und Frieden. Er braucht wohl diese Unterhaltung so sehr wie ich. Denn was anderes hat er zu tun? Während ich am Ufer auf und ab spaziere, fasziniert seinen Ausführungen lausche, auf Schiffe warte und gelegentlich den Wellen jauchzend ausweiche, sitzt er auf der Wurzel eines großen Baumes, erzählt und behält mich im Auge. Stunden können wir so verbringen. Er von seinen eigenen, persönlichen Abenteuern berichtend. Ich Steine ins Wasser werfend. Ein kleiner Stein – plitsch. Ein großer Stein – platsch. Dann viele auf einmal. Ein Stein ist zu schade, um ihn in die Donau zu werfen, also steckt Opa ihn ein. Ein anderer ist so flach, dass ich ihn mühelos über das Wasser springen lassen kann. Die konzentrischen Kreise faszinieren … der Fluss beruhigt. Erst als die Stechmücken über uns herfallen, ist es Zeit, die Heimreise anzutreten, um anschließend Oma aufgeregt – bei einem Stück Strudel – vom Erlebten zu berichten.
Scheinbar mühelos schaffen sie es, mich mit alltäglichen, einfachen Dingen zu begeistern. Wie leicht es doch sein kann, ein Kind ohne großen Aufwand glücklich zu machen… Lediglich die Rückfahrt in die deutsche Heimat trübt dieses Glück. Und nicht einmal die patrouillierenden Soldaten an der Grenze können davon ablenken.