Brechsit oder All You Need Is Cash

schumannIch bin ein langsamer Leser …
Von Ludwig Schumann

Erfurt. Frühsommer 1964. Kurz vor 19 Uhr. Am Fenster von Frau Scheidt gab es für die Nachbarskinder Zuckerbrote. Hallo! Dünne Scheiben, ganz sparsam mit Butter bestrichen, ebenso sparsam mit Zucker bestreut.So schmeckte für uns das Paradies.

Ich erhielt das Zuckerbrot, im Radio aus der Küche drangen die letzten Minuten vom „Aktuellen Plattenteller“ des Deutschlandfunks an mein Ohr: „Komm gib mir deine Hand.“  Ich wusste es vom a-moll-Akkord an: Das war meine Musik. Die Stimmen Lennons und McCartneys wurden mein musikalisches Erweckungserlebnis. Die britische Invasion begann, zum Leidwesen meiner Eltern. Da half auch nicht, dass erst mit dieser Musik im Ohr sich mein Verständnis für Mozart und Grieg entwickelte. Natürlich wollte ich die bei AMIGA erschienenen Beatles-Platten. Allerdings musste ich mir zunächst einen Plattenspieler ersparen. Als ich ihn endlich hatte, waren auf Walter Ulbrichts „Yeah-Yeah-Yeah“-Diktum die Platten wieder aus den Läden. Die Beatles also, insbesondere McCartneys Stimme, erweckten mich zur Musik, Ulbricht schenkte mir den Jazz, weil der Beat weg war aus den Läden. Da kam etliches an Musik aus GB, Kenny Ball und Chris Barber beispielsweise. Will sagen: Ohne die Briten wäre mein Leben ein anderes gewesen, obwohl die DDR weder Mitglied der EG noch des britischen Commonwealth gewesen ist.
Berlin. Frühsommer 2016. mit Verspätung nach 20 Uhr. Auf der Waldbühne warten die Mädchen, die damals bis zur Ohnmacht „gekrischen“ haben. Sie kommen jetzt ergraut, mit Krückstock, eher der Großmutter der anwesenden Frau McCartney ähnelnd als deren Konkurrentin. Aber dennoch fröhlich, enthusiastisch. McCartney singt die Wolken weg. Es wird ein großartiger Abend mit zweieinhalb Stunden Konzert ohne Pause von einem Mann auf die Bühne gebracht, der vier Tage vor seinem 74. Geburtstag mit jungenhaftem Charme sein Publikum diese Zeit problemlos bei der Stange hält. Ja, hatte ich gedacht, bevor sie nun alle in der Zeit verschwinden, will ich wenigstens einen von ihnen live erleben. Ich gestehe meine Begeisterung. Zumal McCartney mit der B-Seite der Abbey-Road-LP, der letzten, die sie gemeinsam aufnahmen, die Zugabe beendete. Die rockigen Gitarrensoli erinnerten an eine kreuzjunge Band. Zum Ende merkte ich, wie sich Wehmut einschlich: Ich hatte ihn erlebt. Er bot einen Querschnitt durch sein Schaffen. Ein Requiem, schien mir zum Abschied. Aus Euphorie wurde Nachdenklichkeit. Der Mozart unserer Tage und der von ihm erweckte Musikliebhaber sind, so wurde es mir schmerzhaft bewusst, in der letzten Phase ihrer Liebe angekommen. Wir wissen nicht, wie ausufernd diese wunderbare Phase noch sein kann, aber es ist unwiderruflich die letzte.
Und nun verlassen die Briten Europa. Europa? Was für ein Quatsch. Sie treten aus der EU aus. Was bedeutet das für mich? Rein äußerlich erst mal nichts. Es hat mich bisher nicht einmal auf die Insel getrieben. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die überall hinreisen müssen. Mir reicht ein Bildband über England, über seine Gärten. Dann doch Wehmut. Warum? Ich gehöre zur Generation, für die Frieden nicht nur ein Wort, sondern nach den Erzählungen der Eltern-Generation und der Erfahrung des Kalten Krieges eine existenzielle Verfassung gewesen ist, deren Wahrhaftigkeit, deren Körperlichkeit die Europäische Union gebildet hat. Ihr Bestand, dachten wir, ist Garant für diese Friedenszeit. Ich habe die sonderbaren Alleingänge europäischer Länder in der Flüchtlingsfrage nie verstehen mögen. Diesen Unwillen, in das offene Europa hineinwachsen zu wollen. Wie man eine solche Kostbarkeit wie die europäische Grenzenlosigkeit, die Einheit in der Vielfalt, das Fest der Kulturen freiwillig aufgeben kann, übersteigt mein Fassungsvermögen. Wie man ganz und gar die Europäische Union umformen will zu einer „säbelrasselnden“ (Zitat Steinmeier) Gemeinschaft aggressiver Staaten, siehe NATO-Manöver und -Stationierungen im Osten, wie es die östlichen EU-Länder für sicherer halten, also im Gefolge der NATO-Optionen nun auch in den Ländern der EU aufrüsten will. Wie man nach Verleihung des Friedensnobelpreises ein derartiges politisches Versagen verantworten will, bleibt mir ein Rätsel.
So wie der Brechsit (ist nicht falsch geschrieben, sondern eine vorsichtige Umschreibung eines Gefühls) letztlich nichts anderes ist als das Versagen einer Politikergeneration, die nicht mehr viel davon versteht, was sie anrichtet. So wie wir einen Landesvater haben, der seiner Bevölkerung einredet, dass sie von der Flüchtlingsschwemme überfordert ist (ca. eine Million Sachsen-Anhalter haben als Wirtschaftsflüchtlinge das Land verlassen; 34.000 sind eine Überschwemmung?), anstatt die logistischen Voraussetzungen schaffen zu lassen, das schnelle Integration möglich ist. Will sagen, wenn ich kontinuierlich Verunsicherungen schaffe, wenn ich kontinuierlich eine Gesellschaft baue, in der die Armen und in die Armutskaste gedrückten Mittelständischen so viel Cash aufbringen müssen, den Staat zu halten, während die Kaste der Betuchten nicht annähernd zu einer solidarischen Gesellschaft finden müssen, wenn ich also nach so vielen Jahren weiter das amerikanische neoliberalistische Lied pfeife, das alle Lasten gleichmäßig auf die Geringverdiener verteilt, gleichzeitig aber das Lied singen lässt, dass die Renten gefährdet, die Sparanlagen passé sind, der Wohnraum nicht bezahlbar wird, Autobahnen privatisiert werden sollen … Dass dann Geld für Aufrüstung zum Bombardieren fremder Bevölkerungen ohne Kriegserklärung, wie dass das NATO-Land Frankreich unter Mithilfe der Bundesrepublik praktiziert, da sein soll – muss ich mich da wundern, wenn wieder Menschen unterwegs sind, Schuldige zu finden?
Nur mal nebenbei: Hören Sie, wie leise, wie unhörbar der Protest gegen diese dämlichste aller Geldausgaben, die auch noch das Leben unserer Kinder fordern kann, ist? Väter, Mütter? Ja, und genau so ist das, wenn wir nun sagen müssen: Europa? Das haben wir versemmelt. Nicht die Politiker. Die haben wir gewählt. Unser Nichtwiderstand gegen eine Entwicklung, die vorhersehbar war, hat das ermöglicht. Dafür haben wir wieder jemanden, dem wir wie die Deppen hinterherrennen können. Fazit: Wenn ich meinen Vater auf diesen Menschen ansprach, schüttelte er den Kopf und wiederholte geradezu gebetsmühlenhaft den Satz: „Die Menschheit insgesamt ist blöde.“ Ich wollte ihm das nie glauben. Wir haben uns Abende darum gestritten. Heute tue ich ihm Abbitte.
In der Abendlandschaft meines Lebens steht nun wieder eine Mauer. Nicht nur eine aus Stein. Diesmal ist es eine gezimmerte aus gestorbenen Herzen. Über die letzte Mauer konnte ich irgendwann klettern. Diese werden wir zunächst kaum wahrnehmen. Aber ihre Realität wird uns verändern. In der Abendlandschaft meines Lebens steht also wieder eine Mauer. Das macht mich nicht stolz. Man kann es weniger vornehm sagen: Mir ist zum Kotzen. Über die andere Erfahrung, die von 1964 – ab Beginn meines bewussten Lebens – gestanden hat, bin ich dankbar.

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