Sachsen-Anhalt garantiert seit 2013 allen Eltern eine ganztägige Betreuung in Kinderkrippen, unabhängig davon, ob die Eltern arbeiten oder nicht. Die vom Land getragenen Kosten hierfür liegen bei 280 Millionen Euro pro Jahr.
Ab August 2015 überwies das Land laut Presseberichten für jedes Krippenkind 315 Euro monatlich; landesweit wird eine Spanne von 800 bis 1.700 Euro Gesamtkosten für einen Krippenplatz angegeben. Das Land beansprucht für sich bundesweit eine Spitzenposition in der Krippenbetreuung, auch wegen des Rechtsanspruchs für Eltern, die beide nicht arbeiten gehen. Die zusätzlichen Kosten hierfür betragen viele Millionen.
Die Argumente für die hohe Priorität, die das Land der Finanzierung der Kinderkrippen beimisst, liegen auf der Hand: Vereinbarkeit von Beruf und Familie, möglichst frühe Förderung intellektueller und sozialer Fähigkeiten der Kinder, auch solcher aus sozial schwierigeren und leistungsschwächeren Verhältnissen, Ermöglichung beruflicher Tätigkeit für Alleinerziehende. Die hohen finanziellen Investitionen des Landes in die Kinderkrippen werden von der Überzeugung getragen, dass diese neben der beruflichen Selbstverwirklichung der Eltern nur positive Effekte bei den Kindern hinterlassen. In Paragraph 1 des KiFöG wird als Ziel formuliert: „In Tageseinrichtungen und in Tagespflegestellen soll die Entwicklung jedes Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefördert werden“. Unausgesprochen geht damit einher die Annahme, dass Kita-Betreuung keine Nachteile gegenüber einer traditionellen Familienerziehung hat, wie sie z.B. in den alten Bundesländern vor der politischen Wende für die Mehrzahl der Kinder erfolgte. Eine Rolle bei den hohen Investitionen in den Kitas Sachsen-Anhalts spielt wohl auch das aus der Vorwendezeit überkommene Familienbild mit fast 100-prozentiger Berufstätigkeit der Mütter und Krippenbetreuung in staatlicher Zuständigkeit für fast alle Kinder ab dem zweiten Lebensjahr. Hierin dürfte auch die Erklärung für die jetzt trotz Annäherung immer noch bestehende Diskrepanz zwischen Ost und West zu suchen sein: 2014 lag die Betreuungsquote für Krippenkinder im Osten mit 52 Prozent annähernd doppelt so hoch wie in Westdeutschland.
Die derzeitigen Medienberichte um die Kinderkrippen in Sachsen-Anhalt werden von der Diskussion dominiert, wie die Aufteilung der Krippenfinanzierung zwischen Land, Kreis, Gemeinden und Eltern erfolgen soll. Ob die Kurz- und Langzeiteffekte der Krippenerziehung für die betroffenen Kinder tatsächlich immer so positiv sind, wie allgemein angenommen, wird offenbar nicht hinterfragt.
Zunächst ist bei den Einflüssen, die die spätere Persönlichkeit prägen, zu beachten, dass diese ungefähr zu gleichen Teilen sowohl von der genetischen Anlage als auch von der frühen Lebenserfahrung geprägt wird. Es ist ein vielfach bestätigtes Ergebnis der Bindungsforschung, die sich der psychischen Entwicklung des Kindes in Abhängigkeit von den frühen Bezugspersonen widmet, dass die emotionale Stabilität in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter weitgehend von einer frühen positiven Eltern-Kind-Bindung in den ersten Lebensjahren abhängt. Bleibt diese aus, so ist das Risiko einer später auftretenden Depression, Angsterkrankung, emotionalen oder dissozialen Persönlichkeitsstörung erheblich erhöht.
Über den Einfluss von Krippenerziehung auf die spätere Entwicklung der kindlichen und jugendlichen Psyche im Vergleich zu traditioneller „bürgerlicher“ Erziehung in der Herkunftsfamilie gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Untersuchungen, die nachstehend zusammengefasst sind:
Ergebnisse internationaler Studien zu den Auswirkungen von Krippenerziehung:
In den USA wurden vom renommierten National Institute of Child Health and Development (NICHD-Studie, publiziert 2007, 2010 und 2014) Untersuchungen an mehr als 1.300 Kindern bis zum 15. Lebensjahr überwiegend an weißen Mittelschichtfamilien durchgeführt. In den ersten Lebensjahren zeigten sich keine wesentlichen Verhaltensunterschiede zwischen Kindern mit inner- oder außerfamiliärer Betreuung. Je länger jedoch die Zeit der Krippenbetreuung, desto mehr entwickelte sich emotionale Instabilität und aggressives Verhalten in der späteren Jugend in Form von Streitsucht, Sachbeschädigung, dissozialem Verhalten, Ungehorsam, Grausamkeit. Ein weiteres eindrucksvolles Ergebnis war, dass unabhängig von der Betreuungsform die Qualität der Mutter-Kind-Beziehung und des Elternhauses bei weitem der wichtigste Aspekt für eine emotional ausgeglichene Entwicklung des Kindes war.
Eine in England durchgeführte Family, Children and Child Care Study (FCCC-Studie, publiziert 2012 und 2013) bestätigte die amerikanischen NICHD-Ergebnisse. Problematischere Verhaltensweisen nach Krippenerziehung im Vergleich zu traditioneller Familienerziehung wurden erst nach dem 3. Lebensjahr deutlich.
Ein Schweizer Forschungsprojekt (2011) untersuchte Kinder im Alter von 7 Jahren. Frühere Krippenbetreuung ging einher mit erhöhtem aggressiven, ängstlichen und depressiven Verhalten. Es konnte ein Anstieg psychischer Probleme mit zunehmendem Alter der Kinder verzeichnet werden.
In einer kanadischen Untersuchung (Quebec-Projekt, 2008) wurden Kinder mit Krippenerziehung mit solchen aus Pflegefamilien im Alter von vier Jahren verglichen. Die Eltern berichteten bei Krippenkindern über vermehrte Hyperaktivität, Angst, Aggressivität und Krankheitsanfälligkeit.
Eine Holländische Übersichtsarbeit (2006) fasste neun Untersuchungen zur Messung des Stresshormons Cortisol bei Krippenkindern im Vergleich zur mütterlichen Betreuung .zusammen. Cortisol ist bei psychischem Stress wie Angst und Depression erhöht. Zu hohe Konzentrationen dieses Hormons beeinträchtigen nicht nur die Funktion des Immunsystems sondern auch bestimmter Teile des Hirngewebes. Bei Krippenkindern konnte erheblicher Anstieg von Cortisol im Tagesverlauf festgestellt werden.
Auch In Deutschland fand eine „Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ (NUBBEK-Studie, 2012) statt, die in Bayern, Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen erfolgte. Zu den Fragestellungen gehörte auch, welche Zusammenhänge zwischen Krippenbetreuung einerseits und Familienbetreuung andererseits mit dem Bildungs- und Entwicklungsstand der Kinder bestehen. Untersucht wurden 2- und 4-jährige Kinder. In diesen Altersstufen konnten keine wesentlichen Unterschiede in kognitiven, kommunikativen und motorischen Fähigkeiten der Kinder festgestellt werden, mit Ausnahme eines leicht erhöhten Problemverhaltens bei Kindern mit außerfamiliärer Betreuung. Über die psychische Entwicklung in höheren Altersstufen wurden keine Angaben gemacht.
Eine Norwegische Studie (2012), die sich 3-jährigen Kindern bei sehr guter Krippenqualität widmete, fand ebenfalls keine Unterschiede zur Familienbetreuung. Auch hier finden sich keine Ergebnisse zu höheren Altersstufen.
Ich sehe kein Argument, das dagegen spricht, dass die aufgeführten internationalen, in ihren Kernaussagen übereinstimmenden Studien nicht auf Sachsen-Anhalt übertragbar wären. Jedoch ist bei der Bewertung dieser Forschungsergebnisse zu berücksichtigen, dass es sich dabei um statistische Mittelwerte mit erheblichen Abweichungen im Einzelfall handelt. Neben der Krippenqualität spielen die von vornherein bestehende genetische Persönlichkeitsanlage und insbesondere die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung eine äußerst bedeutsame Rolle. Statistisch eindeutige Gruppenunterschiede besagen andererseits aber auch, dass die Ergebnisse für einen größeren Teil der untersuchten Population zutreffen.
Eine optimale Erziehung zur psychisch stabilen und sozialkompetenten Persönlichkeit in der Herkunftsfamilie setzt intakte Familienverhältnisse und solide wirtschaftliche Verhältnisse voraus. In Sachsen-Anhalt wächst nur noch die Hälfte der Kinder als Nachwuchs von traditionellen ehelichen Gemeinschaften auf. Alleinerziehende machen in Sachsen-Anhalt ca. 25 Prozent der Lebensformen aus; ein ebenso hoher Anteil von Kindern lebt in Hartz-IV-Familien. In den genannten europäischen und amerikanischen Studien blieben jedoch auch nach Berücksichtigung der sozialen Herkunft der Kinder die statistischen Unterschiede zwischen familiärer und außerfamiliärer Betreuung bestehen. Folgendes Resümee kann aus den bislang veröffentlichten Studien gezogen werden:
(1) die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung ist der wichtigste Faktor für die spätere emotional und intellektuell ausgewogene Entwicklung der Persönlichkeit.
(2) Krippenbetreuung fördert die kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten nicht besser oder schlechter als Familienerziehung, hat aber (statistisch gesehen) negative emotionale Langzeitfolgen.
(3) In der Diskussion zur Konzeption des Krippenwesens in Sachsen-Anhalt sollte eine bessere Förderung der innerfamiliären Kindesbetreuung und eine nachhaltigere, auch finanzielle Motivationsbildung bei den Eltern hierfür eine größere Rolle spielen. Von den anfangs genannten Summen für Kitas könnten durchaus Anteile in ein Landeserziehungsgeld, wie es in Sachsen, Bayern und Thüringen gezahlt wird, überführt werden. Warum kann man nicht das Geld, das das Land für ein Krippenkind zahlt, den Eltern zugutekommen lassen, die sich in den ersten Lebensjahren ihres Kindes zu Hause selbst der Erziehung widmen wollen?
Im letzten Koalitionsvertrag wurde vereinbart, dass in einem zweiten Schritt das Kinderförderungsgesetz bis Ende 2017 novelliert werden soll. Dies soll auf Grundlage der Evaluierung des Gesetzes, unter Berücksichtigung aktueller Gutachten und fachlicher Stellungnahmen zur Finanzierung der Kinderbetreuung erfolgen. Bleibt zu hoffen, dass die dargestellten Forschungsergebnisse die Diskussion hierzu ergänzen.
Prof.(em.) Dr. med. Bernhard Bogerts
ehem. Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Magdeburg; derzeit Leiter des Salus-Instituts der Salus gGmbH, Magdeburg