Wahrheit haben wir auf dem Schirm. Realität offensichtlich seltener in der Hand. Dann wundern wir uns darüber, dass Wirklichkeit weniger auf unsere Erwartungen trifft. Leben wir in einer Art Zwischenwelt?
Von Thomas Wischnewski
Man soll das Leben nicht schlecht reden, denke ich. Aber Schönfärberei kittet keine Risse. Das ist mir klar. Doch ich sitze zwischen Anspruch und Wirklichkeit und sehe, wie Erwartungen von der Realität in Stücke gerissen werden. Natürlich könnte ich einfach wegschauen und mir die Zeit mit Unterhaltungsfilmen, Computerspielen oder dem aktuellen Smartphone-Trend „Pokémon Go“ vertreiben. Aber ich würde dann nur in einer Welt der Illusionen sein, um nicht sehen zu müssen, dass über allem längst ein Hauch von Apokalypse schwebt. Mir ist als existierten wir in einer Art Zwischenwelt, die von Antagonismen gespeist wird, die konträrer nicht sein könnten. Wahrheit sollte jeden Weg erleuchten. Doch sie scheint im selben Moment von der Täuschung zerrissen. Da hat die SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz ihren Lebenslauf erlogen und fällt zurecht über den eigenen Lügenberg. Die mediale und Volksempörung darüber bläst wie ein Sandsturm über die politische Landschaft und weht das letzte Vertrauen zur Führungselite in die weite Wüste. Wir wollen nicht erkennen, dass an den Schaltstellen der Macht nur die Vertreter eines unwirtlichen gesellschaftlichen Grundklimas tanzen. Ich sehe unter solchen Empörten welche, die erregt im Glashaus sitzen und die Steine schon in der Hand halten. Dass sie selbst einst Steuern hinterzogen haben, ist vergessen oder es wird natürlich verborgen. Das soll ja niemand wissen. Noch jeder schleift die Wahrheit oder flunkert wegen eines Vorteils, um nicht vor anderen dumm dazustehen oder um sich nicht schämen zu müssen. Der Morast der Täuschungen ist allgegenwärtig, und jeder redet sich heraus, weil es doch die anderen gleich täten. Also regt man sich über die Spitze des Eisberges auf, zu dessen übermächtig tragenden Körper man selbst gehört. Zurück in die politische Sphäre, in der ich mich ebenso zwischenweltlich fühle. Die Seite, auf der die Despoten stehen, können wir von unserem Moralgipfel ausgezeichnet ausmachen. Erst war Putin als Antidemokrat ausgemacht, weil er die Krim an sich riss. Dafür wurde er mit Sanktionen abgestraft. Allen Russen gefällt nicht, was ihr Präsident so ausheckt, aber eine Mehrheit eint offensichtlich der Gedanke, dass es ihm überhaupt gelingt, dieses viel-ethnische Konstrukt Russland zusammen zu halten. Doch wir maßen uns an, alles an unseren Maßstäben zu messen. Und jetzt, wo der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach einem gescheiterten Putsch als Antidemokrat ausgemacht ist, droht man der Türkei mit Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen, vor allem wenn das Land die Todesstrafe wieder einführen wollte. Die guten USA-Freunde aus Übersee und zugleich liebe Natopartner praktizieren in mehreren Bundesstaaten nach wie vor die Todesstrafe. Juckt das jemanden? Die Sicht aus der deutschen Zwischenwelt ist eben kompliziert. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist wahrscheinlich größer als wir denken können. Was wir worüber auch immer denken wollen, entspringt ohnehin mehr und mehr einer aufgebauschten Scheinwelt. Und ich sehe, dass diese Zwischenwelt wächst. Beim schrecklichen Amoklauf in München präsentierte sich eine Medienhyäne stundenlang mit Nullnachrichten und heizte die Stimmung bis zur Hysterie an. Der Anspruch mag wohl gewesen sein, dass man unmittelbar dabei sein wollte, um ungeschminkt die Wahrheit zu zeigen. Was als Wahrheit transportiert wurde, war zu jederzeit Spekulation. Es wundert nicht, dass darüber ein Pressesprecher zum Held wird, der nichts als seinen Job machte. Er hat nur die Überreiztheit der anderen sichtbar gemacht. Die Unfassbarkeit der Welt soll fassbar werden – das mag der Anspruch sein, dem wir uns stellen. Doch dann greifen wir nach der Wirklichkeit des Fernsehens oder Internets und erhalten Interpretationen. In den meisten Fällen – nein, in allen – sind die vermittelteten Informationen verkürzt, überhöht oder derart vielschichtig wortreich vernebelt, dass niemand mehr den wahren Kern erkennen kann. Ich könnte den 2015er Merkel-Satz „Wir schaffen das“ als Äußerung imperialer Anmaßung zu einer Volkshausaufgabe verstehen, genauso wie einst der Deutsche Kaiser Wilhelm II. 1914 das Volk mit „Wir werden siegen“ in den Krieg schickte. Natürlich hinkt der Vergleich. Nur hinken permanent und fortwährend Vergleiche durchs gesellschaftliche Bewusstsein. Und es wundert mich wenig, wenn einer trivialisiert absolutistischen Sprachgeste der Kanzlerin, die weder Flucht-, Asyl- noch Integrationskomplexität erklärt ein Kontra an vollständiger Untergangsprophezeihung entgegenschlägt. Diese Nation hat zwei Weltkriege geführt – allein im Zweiten waren 60 Millionen Tote zu beklagen. Untergegangen ist Deutschland nicht, obwohl das vielstimmig ausgerufen war. Nur, weil die eine Seite stümperhaft reagiert oder schläft, macht es eine andere nicht besser. Trivialität schafft Radikalität und mündet in Brutalität. Das ist, was wir erleben. Wenn die einen einfache Antworten proklamieren, genügen die schlichten Antworten der anderen auch nicht. Menschen aus anderen Kulturen sollen schön bleiben, wo sie sind, ruft es aus vielen virtuellen Rohren. Wir wollen uns schließlich hier einrichten und haben selbst genügend Probleme. Hat sich die Wirklichkeit schon einmal um die Probleme von Menschen gekümmert? Inmitten meiner Zwischenweltlichkeit höre ich dann den Hinweis von Leuten, die in Amerika einerseits die Verschwörer für alles Übel identifiziert haben und andererseits deren restriktives Einwanderungsrecht als Vorbild hochhalten, ohne dabei auf die geschätzten 14 Millionen illegalen Einwanderer zu verweisen, die im Land der Freiheit heimlich hausen. Anspruch und Wirklichkeit liegen nicht beieinander. Ein Gedankenexperiment: Was wäre eigentlich, wenn es in China, Indien oder in anderen asiatischen Regionen eine große Bürgerbewegung, gar einen Bürgerkrieg oder Ähnliches gäbe, wenn dort Menschen aufstünden, weil sie mit ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht mehr einverstanden wären und unsere Werkbänke für Autoelektronik, Computer- und Handyteile, für jede Heimelektronik und andere Alltagsgegenstände plötzlich still stünden und Lieferungen für längere Zeit ausfielen? Ob wir dann Grenzzäune hätten oder nicht, keines der uns so heiligen Produkte käme an. Es muss uns ja nicht kümmern, wie auf der anderen Seite der Erde etwas entsteht. Allerdings legen wir mit politischen Parolen und Erklärungen den Finger in Wunden von Unmenschlichkeit und eingeschränkte Freiheitsrechte, Hauptsache unsere Freiheit wird davon nicht berührt. Mitten in unsere unschuldige Freiheit bricht der Terror eines islamistischen Fanatismus, dessen tiefste Wurzeln 1.300 Jahre zurückreichen und der in Zeiten der Kolonialisierung französisch und englisch zugespitzt wurde und die Interpretationen über den Konflikt können die Vielschichtigkeit der muslimischen Welt nicht einmal im Ansatz verdeutlichen. Unter der aktuellen Konfliktberichterstattung erklärt kaum jemand, dass das größte Erdgasvorkommen der Erde sowohl von Katar als auch vom Iran ausgebeutet wird. Also einerseits von arabischen Sunniten und andererseits von iranischen Schiiten. Der syrische Herrscher Baschar al-Assad hat die Sunniten abgewiesen, die eine Pipeline durch sein Land bauen wollten, um das Gas nach Europa zu transportieren. Die Schiiten wollte er indes gewähren lassen. Die religiöse Auseinandersetzung ist offenbar nur ein Aspekt des ganzen Syrien-Dilemmas. Für unseren Energiehunger ist allerdings nur wichtig, dass wir überhaupt das Gas bekommen, egal unter welcher Herrschaft und wer bei uns den Kanzler stellt. Apropos Energie: Wir sind ja allesamt die Heilsbringer der großen Energiewende. Das Gesetz über Erneuerbare Energien (EEG) wird mittlerweile wie die „Heilige Schrift“ einer Ökologiereligion behandelt. Im Kern ist das Gesetz ein unflexibles und teures Instrument einer ökologischen Planwirtschaft, unter der uns erklärt werden soll, wir würden darunter zu Samaritern des Umweltschutzes werden. Der Einspeisungsvorrang von Strom aus sogenannten „Erneuerbaren Energien“ und die Vergütung für den so erzeugten Strom fällt derart üppig aus, dass sich jede Verhältnismäßigkeit auflöst. Übrigens sagen Fachleute auf diesem Gebiet, sie machten sich keine Sorge um die Energiewende, sondern wegen dieser. Wasserkraftwerke mit Null-Emissionen und Gaskraftwerken mit Fast-Null-Emissionen und sehr viel niedrigeren Stromerzeugungskosten würden unter der Maßgabe des Einspeise-Vorrangs in die Unwirtschaftlichkeit getrieben. Wo ist hier der Anspruch, wo die Wirklichkeit? Pfiffige und risikobereite Menschen wollten – nicht nur in Magdeburg – einen Laden eröffnen, der kaum Verpackungsmüll erzeugt. Mit Ressourcen sorgsam umgehen, Lebensmittel als Schüttgut anbieten und abwiegen – das war das Konzept. Die Initiative, die jedem ökologischen Anspruch genügt, scheitert jedoch an der Wirklichkeit bestehender Hygienevorschriften. Ich sehe hier ein Leben in einer Zwischenwelt, in der ideologische Ideen und mittlerweile wahrhaft aufgeblasener Regelwahn nicht mehr zusammenfinden. Mit ist, als sperrten wir die Wirklichkeit weiter aus dem Leben aus und uns selbst immer mehr in Illusionen ein. Eine Nachricht macht in den unsozialen Netzen nicht nur einfach die Runde, sie wird quasi durch Kommentierung und Interpretierung aufgeblasen, mit Illusionierung beschmückt und schlägt scheinbar über allen ein wie die Detonation einer Wasserstoffbombe. Dann steigert sich das Erregungspotenzial über die Entzündlichkeit an Meinungen und eine weitere Epidemie breitet sich als elektromagnetische Schwingungen aus, die als flimmernde Pixel auf Bildschirmen sichtbar werden. Ist das die Wirklichkeit? Nein. Die Summe aller Beteiligten sorgt dafür, dass sich Realität in Virtualität wandelt und je mehr Menschen von einer Losung überzeugt sind und dieselbe ausrufen, um so wahrer scheint sie zu werden. Der Ausweg aus dem Schrecken der Nachrichten und deren metastasenhafte Ausbreitung abseits aller Wirklichkeit besteht einzig darin, nicht permanent hinzuschauen und vor allem, sie nie als bare Münze zu nehmen, weil sie keine Münzen sind. Den Schein von Wahrheit in Scheinwelten erzeugen wir selbst. Es sind die massenhafte Vorstellung und der Glaube an eine Sache, die uns deren wahren Wert vorgaukeln. Übrigens: Ich glaube daran, dass elektromagnetische Schwingungen im Rechnenzentrum meiner Bank Geld sind. Sie sind es nicht, aber ich glaube daran, wie jeder andere auch. Deshalb sehe ich in den Zahlen auf dem Kontoauszug oder beim Online-Banking wirkliches Geld, welches eigentlich keines ist. Die Wahrheit liegt nicht mehr irgendwo in der Mitte, sie ist entrückt in eine Zwischenwelt. Eine große Mehrheit beteiligt sich daran, das Leben immer seltener in die Hand zu nehmen und hat es stets auf dem Schirm. Ich höre an dieser Stelle auf, Wirklichkeit mit meinen Interpretationen zu verdrehen. Es sollte gelten bei Informationen die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer sich jedoch von Informationen überschütten lässt, bringt jeden Trennvorgang zum Erliegen. Ein anderer hinkender Vergleich könnte lauten: Einseitige Informationskost ist genauso schädlich wie einseitige Ernährung und die Erregung darüber ist keine Diät, sondern nur eine Zwischenwelt abseits der Wirklichkeit.