Frag’ doch mal bei Kohlrausch nach

Der_Diskus_Anleitung_von_Christian_Georg_Kohlrausch,_1882,_TitelEin Magdeburger Turnlehrer rief Ende des vergangenen Jahrhunderts das antike Diskuswerfen wieder ins Leben. Dafür führte er mit seinen Schülern umfangreiche Studien und Experimente durch.

Von Rudi Bartlitz

Ein leichter Wind fährt über verdorrte Grashalme. Erbarmungslos brennt die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab. Auf den beiden sich gegenüberliegenden, langgezogenen Stadionwällen ist an diesem frühen Nachmittag kaum eine Menschenseele zu sehen. Hier also, im klassischen Olympia, im Nordwesten der griechischen Halbinsel Peleponnes, haben sich vor über 2500 Jahren die besten Athleten der Antike versammelt – zu den olympischen Spielen. Den Kern der mehrwöchigen Wettkämpfe bildete seinerzeit ein Fünfkampf, dessen wichtigste Disziplin, da stimmen nahezu alle historischen Quellen überein, das Diskuswerfen war. Möglicherweise weist schon die Bezeichnung des „steineschleudernden“ Diomedes im Epos „Ilias“ auf den Diskus hin. Zumindest war die linsenförmige Scheibe Gegenstand der griechischen Mythologie und der Diskuswerfer wurde in der Antike als der Athlet schlechthin betrachtet. Ein Diskus konnte seinerzeit auch als Waffe Verwendung finden und in Kampfspielen zum Einsatz kommen. In der griechischen Mythologie ist nachzulesen, dass es sogar zu unbeabsichtigten Todesfällen kam, etwa als Perseus seinen Großvater Akrisios versehentlich mit einem Diskus traf. Zwar sind aus jener fernen Zeit zahlreiche, teils prunkvolle Statuen aus Marmor oder Bronze und auch Zeichnungen von Diskuswerfern überliefert, doch wie die antiken Helden die Scheibe zum Fliegen brachten, welche Technik sie verwendeten – darüber war zweieinhalb Jahrtausende später nichts mehr bekannt. Die Spuren hatten sich sozusagen in der Geschichte verloren … Als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der französische Baron Pierre de Coubertin und seine Mitstreiter daranmachten, die Olympischen Spiele der Antike wiederzubeleben, waren sie sich einig, dass das Diskuswerfen, jene ebenso spektakuläre wie geschichtsträchtige Disziplin, unbedingt dazugehören müsse. Doch wie seinerzeit die Bewegungsabläufe eigentlich gewesen waren (oder hätten gewesen sein können), wie schwer der Diskus war, aus welchem Material er gefertigt worden war, das wusste keiner so recht zu sagen. Guter Rat war also teuer. Bis einer in den Pariser Zirkeln auf eine Spur stieß: Irgendwo in Deutschland solle es jemanden geben, der vielleicht helfen könne. Der wusste, wie (heute würde man sagen Trend-Sportart) Diskuswerfen funktioniert hatte. Und richtig, der Magdeburger Pädagoge Christian Georg Kohlrausch konnte tatsächlich helfen.

Der  Magdeburger Pädagoge Christian Georg Kohlrausch (1851-1934).

Der Magdeburger Pädagoge Christian Georg Kohlrausch (1851-1934).

Kohlrausch – der 1880 als Lehrer an das Pädagogium zum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg berufen worden war und später das hiesige Schulturnen von Grund auf reformierte – hatte aus Abbildungen und Skulpturen wie dem Discobolus, der heute im British Museum in London ausgestellt ist, jene seit etwa 700 vor Christus bei Olympischen Spielen praktizierte Disziplin rekonstruiert. 1882 veröffentlichte er eine „Anleitung zur Einführung des Diskuswerfens“. Auf der Grundlage langjähriger Studien popularisierte er in Deutschland das antike Diskuswerfen, das er zusammen mit seinen Schülern während des Unterrichts und in zahllosen zusätzlichen Übungsstunden experimentell modernisierte (Originalton Kohlrausch: „Bei richtiger Handhabung des Diskuswerfens werden sämmtliche Muskelpartien des Körpers in Thätigkeit gesetzt“). Als zweites Ergebnis seiner Antike-Studien entwickelte er einen „griechischen Fünfkampf” inklusive Diskuswerfen, den er aus erzieherischen Gründen als einen Schülerwettkampf im Rahmen der Schuljahresfeste in Magdeburg organisierte. Das Wirken des Magdeburger Pädagogen blieb, auch ohne moderne Massenkommunikationsmittel, nicht lange unbeachtet. Zumal er sich auch als einer der Geburtshelfer des Fußballs in Deutschland hervortat. 1881 demonstriert Kohlrausch in Magdeburg mit seinen Schülern zum ersten Mal das Fußballspiel nach den Regeln des Braunschweiger Turnlehrers Prof. Konrad Koch, der als wichtigster Begründers des deutschen Fußballs gilt. Kohlrauschs Name war binnen kürzester Zeit in Sportkreisen in vielen Teilen der Welt bekannt, sein Rat gefragt. Ein zweiter Turnvater Jahn nachgerade. Viele Briefe an ihn waren nur adressiert an: „Christian Kohlrausch, Deutschland“. Bei den ersten Spielen der Neuzeit in Athen 1896 warfen die Athleten denn auch weitgehend nach den Kohlrauschschen Empfehlungen. Das heißt, sie standen auf einem etwa 60 bis 70 Zentimeter hohen Podest und schleuderten, als seien sie Statuen, die Scheibe aus dem Stand mit dem rechten oder linken Arm. Die von dem Magdeburger Turnlehrer nachempfundene museale Vorgeschichte und die offene Zukunft führten allerdings schnell zu einer gewissen Experimentierfreude. Bald hüpften die Sportler nach dem Wurf zusätzlich vom Podest, weil sie sich davon mehr Dynamik versprachen. Aber auch diese Variante wurde, ebenso wie die Kombination aus rechts- und linkshändigem Wurf, bald abgeschafft. Ab der Jahrhundertwende setzte sich immer mehr die amerikanische gegenüber der von Kohlrausch entwickelten hellenischen Methode durch. Jenseits des großen Teiches wurde der Diskus aus einem ebenerdigen Kreis geworfen. Das ermöglichte Varianten mit einem längeren Antriebsweg. Die Technik entwickelte sich schnell von den anfänglichen Würfen aus dem Stand über einen Schwungwurf bis hin zu der heute üblichen anderthalbfachen Drehung um die eigene Körperachse weiter. Ab 1912 wurde aus einem Ring (2,50 Meter Durchmesser) geworfen. Auch die Gewichte veränderten sich: Heute wiegen Wettkampf-Disken für Männer zwei Kilogramm, für Frauen ein Kilogramm. Sie werden aus Holz mit einem Metallring und einem Metallkern gefertigt. „Diskus, das ist die Urform des olympischen Gedankens“, sagt Robert Harting, Deutschlands Diskus-Heroe schlechthin. Kurz vor den am 5. August beginnenden Spielen von Rio bringt der Berliner jenes Gerät wieder ins Gespräch, das wie kaum ein anderes Olympia symbolisiert „Der Diskus diente allein dem Sport. Eine Zweitfunktion kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“ Das Teil sei fünf Kilo schwer gewesen, erklärt Harting; was belege, dass die Scheibe, im Gegensatz zum Speer, nichts anderes gewesen sein könne als ein Sportgerät. „Als Waffe ist so etwas völlig untauglich. Wenn du einen Fünf-Kilo-Diskus wirfst, fliegt er in den Dreck, und dein Gegner ist weg.“ Nun, hier irrt der beste Diskuswerfer der Welt, der Olympiasieger und zweimalige Weltmeister. Es gab durchaus Zeiten in der Antike, da diente der Diskus sogar als Jagdwaffe. Sein Rand wurde dazu angeschliffen und im Flug konnte er Beutetieren schwere Verletzungen zufügen. Auch wenn die Flugobjekte längst keinen scharfen Schliff mehr besitzen, das mit den Verletzungen ist bis heute nicht ganz ausgemerzt. Das Symbol Olympias entfährt der Hand der Athleten bei Würfen nämlich immer noch mit einem solchen Schwung, dass diese aus einem Käfig heraus werfen; Kampfrichter und Publikum müssen geschützt werden vor Flugobjekten von Werfern, die nicht die Kurve kriegen. Turn_Zeitung_No.40_1880_01 (1)Apropos Flugobjekte und Kurve kriegen. Vor fünf Jahren wandelten Wissenschaftler und Studenten der Universität Erfurt quasi auf den Spuren von Christian Kohlrausch. „Antiker Sport im Experiment“ nannten sie ihre Studien. Und obwohl sich der Wissensschatz in den vergangenen 130 Jahren milliardenfach potenziert hat, belegen ihre Ergebnisse vieles von dem, was der Magdeburger Pädagoge mit seinen vergleichsweise bescheidenen Mitteln bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts herausgefunden hatte. Ja, heißt es bei den Erfurtern, es könne als sicher gelten, dass der Diskus in der Antike aus dem Stand mit einer halben Drehung des Oberkörpers geworden worden ist. Nach heutigem Stand der Erkenntnis habe die Wurfscheibe (gefertigt aus Bronze, Marmor oder Blei) seinerzeit zwischen 5,2 und 6,2 Kilo gewogen und einen Durchmesser von zirka 31 Zentimeter besessen. Die Weiten mit einem 5,2-Kilo-Diskus hätten zwischen 28 und 30 Metern gelegen. Würfe von angeblich über 40 Metern, die einige andere Wissenschaftler annoncierten, werden ins Reich der Fabel verwiesen. Nur so zum Vergleich: Heute liegt der Weltrekord mit dem 2-Kilo-Gerät, gehalten vom Schweriner Jürgen Schult, bei 74,08 Meter. Und die Erfurter fanden noch etwas heraus, worauf Magdeburgs Turnvater einst beim besten Willen nicht kommen konnte: Schon die antiken Kraftprotze, so die Erkenntnis, unterwarfen sich einem gesonderten Ernährungsprogramm. Vor und während der Wettkämpfe in Olympia folgten sie einem strengen Vier-Wochen-Speiseplan, exakt aufgegliedert nach Frühstück, Mittag und Abendessen. Eine kleine Auswahl der bevorzugten Speisen: Müsli, Milchsuppe, Äpfel, Eierkuchen mit Honig, gebackener Feta, Datteln, Walnüsse, Gemüsepfanne, Dinkel und Reis, Gemüsesuppe mit Brötchen. Und vielleicht noch wichtiger und ein kleiner historischer Fingerzeig obendrein: Den Fleischverzehr stellten die olympischen Helden in dieser Zeit weitgehend ein. Hätte das der liebe Kohlrausch schon gewusst, in seinem Werk hätte er es die Nachwelt garantiert wissen lassen.

 

Kompakt

Christian Georg Kohlrausch wurde am 2. April 1851 in Benneckenstein im Harz geboren. Der Turner, Lehrer und Turnpädagoge gilt als Begründer der Magdeburger Spielbewegung, die seit den 1870er Jahren das bis dahin stark formalisierte schulische und außerschulische Turnen durch Bewegungsspiele und Leibesübungen im Freien reformieren wollte, und als Begründer des Turnlehrerverbandes der preußischen Provinz Sachsen. Als Lehrer am Domgymnasium Halberstadt führte er 1879 Turnspiele und englische Jugendspiele für Gymnasiasten an den schulfreien Nachmittagen ein. 1880 wurde er an das Pädagogium zum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg berufen, wo er 33 Jahre wirkte und zahlreiche Schriften zum Turnen und zum Sport im Allgemeinen hinterließ. Verdient machte er sich vor allem um die Wiederentdeckung des antiken Diskuswerfens. Nach dem 1. Weltkrieg engagierte sich Kohlrausch für die Volksbildung in Magdeburg. Er starb am 11. Dezember 1934 in Halberstadt.