Sachsen-Anhalt ist bei den Olympischen Sommer- spielen in Rio nur mit elf Sportlern vertreten, so wenig wie noch nie seit der Wende.
Von Rudi Bartlitz
Vorausgesagt hatten es Experten seit langem, so richtig wahrhaben wollte es kaum einer. Jetzt ist es eingetroffen. Sachsen-Anhalt wird bei den in wenigen Tagen beginnenden Olympischen Sommerspielen von Rio von so wenig Sportlern vertreten wie seit der Wende nicht, nämlich mageren elf. Es geht zwar deshalb kein Aufschrei durchs Land (allein diese Tatsache sollte aufmerken lassen), das sich selbst Sportland nennt, doch Fragen nach dem Warum für dieses historische Tief sollten schon gestellt werden. Um den Niedergang zu verdeutlichen, reicht ein Blick in die nüchterne Statistik. Seit 1992, als (nach dem vom Internationalen Olympischen Komitee verlangten Zwangsteams der sechziger Jahre) in Barcelona erstmals eine echte gesamtdeutsche Mannschaft um Medaillen stritt, ist der Anteil der Sachsen-Anhalt-Starter in diesem Team um die Hälfte zurückgegangen. Waren es bis 2004 noch mindestens 22 Sportler, die das Bindestrichland in der schwarz-rot-goldenen Olympia-Equipe vertraten (Höchstzahl 2000 in Sydney mit 26 Aktiven), sank diese Zahl ab 2008 (16) und 2012 (17) auf nunmehr elf. Ob damit die Talsohle erreicht ist, vermag derzeit ernsthaft niemand zu prognostizieren. „Wir haben unser Ziel nicht erreicht, das ist enttäuschend“, redet der Leiter des Olympiastützpunktes (OSP) Sachsen-Anhalt, Helmut Kurrat, nicht um die Dinge herum. 32 Athleten vor allem der leistungsstarken Klubs aus Magdeburg und Halle waren einst ins „Team Rio“ berufen worden, 15 von ihnen, so die internen Erwartungen, sollten zumindest die deutschen Qualifikationshürden überspringen. Bei der Suche nach den Ursachen des Scheiterns, so viel scheint zumindest festzustehen, sind nur wenig gemeinsame Nenner auszumachen. Jeder Fall verlangt irgendwie eine Einzelbetrachtung. „Es ist jedenfalls keine Frage der Einstellung gewesen“, resümiert Kurrat im Gespräch mit Magdeburg Kompakt. „Überall wurde hart trainiert. Oftmals waren es nur Kleinigkeiten, die den Sprung ins deutsche Team verhinderten.“ Und an den Trainingsbedingungen in Sachsen-Anhalt kann es ebenso kaum gelegen haben. Kurrat: „Die sind wirklich sehr gut.“ Woran also lag es dann? Ein Faktor springt zunächst klar ins Auge: Nicht ein Leichtathlet und nicht ein Kanute aus Sachsen-Anhalt schaffte die Qualifikation. Gerade die Paddel-Künstler hatten durch Conny Waßmuth und Andreas Ihle für die bislang letzten olympischen Goldmedaillen (Peking 2008) gesorgt, Ihle für die einzige Plakette in London überhaupt (Bronze). Mit dem Ausfall dieser beiden Sportarten fehlten schon einmal zumindest ein halbes Dutzend Rio-Tickets. Dass mangelnde Nachwuchsförderung und fehlende Talente spätestens ab 2012 dem deutschen Sport zu schaffen machen würden, hatten Experten schon vor rund zehn Jahren ernsthaft angemahnt. Ebenso, dass ein reiches Land wie Deutschland sich den Sport insgesamt zu wenig kosten lasse. Passiert ist wenig; nur die Fußballer werden immer reicher. Jetzt sind wir, also auch Sachsen-Anhalt, mittendrin in dem befürchteten Abwärtsstrudel. Der Sportdirektor des Deutschen Schwimmverbandes, der Hallenser Lutz Buschkow, brachte es in seiner Sportart auf den drastischen Nenner: „Wer Karpfen sichtet, darf keine Delphine erwarten.“ Es fehle „ein System“, erläutert Kurrat, „damit die tatsächlich vorhandenen Talente auch ganz oben ankommen.“ Vor allem auf dem flachen Land sieht der OSP-Chef da noch gewaltige Reserven. Ist denn nirgendwo ein Hoffnungsstrahl in diesem Dunkel, mag der gemeine Sportsfreund in Magdeburg oder Halle mit Blick auf Rio da in einem Anflug von Verzweiflung fragen. In zumindest einem sieht Kurrat etwas Positives: Auch wenn nur elf Athleten das Land an der Copacabana vertreten, deren Medaillenaussichten sollten „wesentlich besser“ sein als die jener 17, die 2012 in London dabei waren und nur mit einmal Bronze heimkehrten. In der englischen Metropole wurde ein sogenannter Wirkungsgrad (d.h. das Verhältnis von Teilnehmern zu Medaillen) von 5,9 Prozent erreicht. Weniger ging kaum. Kein Vergleich zu 2004, als es noch eine Rekordquote von 50 Prozent zu bejubeln gab. Nur zum Vergleich: In den übrigen Olympiajahren lag dieser Grad zwischen 18 und 43 Prozent. „Vielleicht können wir diesmal mit wenig Masse sehr viel Klasse präsentieren“, hofft Kurrat. Mit drei bis vier Plaketten, so ist zu erfahren, wird insgeheim schon gerechnet. Die Aussichten sind tatsächlich gar nicht so schlecht. „Julia Lier, Franziska Hentke, Nadine Müller und Paul Biedermann besitzen nicht nur eine reelle Endkampfchance, sie sind nach meiner Ansicht sogar für eine Medaille gut“, lässt Kurrat einen Blick in seine ganz persönlichen Hochrechnungen zu. Auch einem Marcel Hacker und einer Luise Malzahn traut er „einiges“ zu. Und einen hat er dabei noch gar nicht genannt: Handballer Finn Lemke. Es ist das erste Mal seit Stefan Kretzschmar 2004, dass wieder ein SCM-Akteur ins olympische Ballwerfergeschehen eingreift. „Gerade darüber bin ich sehr glücklich“, bekennt Ex-SCM-Spieler Kurrat. „Es freut mich sehr für den Magdeburger Handball. Es wurde wieder einmal Zeit. Zumal Finn ein Super-Typ ist. Als Europameister sollte für das Team das Halbfinale drin sein. Und dann ist alles möglich …“ In der Tat. Und dann hätte die bisher so wenig erfreuliche sachsen-anhaltische Olympia-Story des Jahres 2016 vielleicht doch noch ein Happyend.
Kompakt
Die „glorreichen Elf“, die Sachsen-Anhalt bei Olympia in Rio vertreten. Schwimmen: Franziska Hentke, Florian Wellbrock (beide SC Magdeburg), Paul Biedermann (SV Halle); Rudern: Marcel Hacker (SC Magdeburg), Julia Lier (SV Halle), Maximilian Planer (Bernburger RC); Leichtathletik: Nadine Müller, Rico Freimuth (beide SV Halle) Handball: Finn Lemke (SC Magdeburg); Judo: Luise Malzahn (SV Halle); Trap-Schießen: Jana Beckmann (Schützengilde Nienburg)