Es kommt heute selten vor, dass man bei einem Gottesdienst die Kirche wegen Überfüllung schließen muss. Beim letzten ‚Politischen Nachtgebet’ mussten wir dies tun“, berichtet der Pfarrer der Antoniterkirche in Köln. Die Autoren des unlängst erschienen Buches „Liturgie von links“ drücken ihre Verwunderung darüber aus, dass Menschen in großer Zahl zusammenfinden, ohne dass sie mit Musik eingefangen werden, ohne dass die üblichen Event-Regeln Beachtung finden, um Texte zu hören und zu diskutieren. 1968 bis 1972 fanden die „Politischen Nachtgebete“ in der Kölner Kirche statt, ins Leben gerufen vom enfant terrible der Kirche und der politischen Klasse, der evangelischen Pastorin Dorothee Sölle. Da wurde seinerzeit öffentlich geäußert, ob man solcherart Gottesdienste nicht verbieten sollte, ob das überhaupt Gottesdienste seien, oder ob das Ganze nicht eher politische Agitation sei. Das ist der erste Lernerfolg dieses Buches: Freiheit gibt es nicht per se, Freiheit, insbesondere die Freiheit des Wortes will stets neu erstritten sein. Sie unterliegt in jeder Gesellschaft dem Zwang der Einengung, dem Wunsch der Kirchenoberen oder der Politiker nach Regulierung. Das freie Wort hat etwas Subversives. Damit können solche nicht umgehen, die das Wort „Freiheit“ als fundamentalen Wert der demokratischen Gesellschaft auf der Fahne vor sich hertragen. Letztlich gehörten die „Politischen Nachtgebete“ in die 68er-Szene. Die Gesellschaft war sensibilisiert. Es ging um Veränderung, ähnlich der 89er-Gesellschaft im kleineren Deutschland. Sölle samt ihrem Mann, dem katholischen Expriester Fulbert Steffensky, gelang es in dieser Zeit, über die „Nachtgebete“ mit über 1.000 Teilnehmern pro Gottesdienst mit ihren Worten, die nicht nur der Wahrheit „nachstöberten“, sondern die Konsequenzen dieser Wahrheit offen legten und zur Nachfolge aufriefen. Sie predigte, dass Menschen sich in ihren Worten wiederfanden. 1983, auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver, referierte sie: „Ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Erde kommt; einem Land mit einer blutigen, nach Gas riechenden Vergangenheit, die einige von uns Deutschen noch nicht vergessen konnten… Dieser Schmerz über mein Land, diese Reibung an meiner Gesellschaft kommt nicht aus Willkür … es wächst vielmehr aus dem Glauben an das Leben der Welt, das mir in dem armen Mann aus Nazareth begegnet ist, der weder Reichtum noch Waffen besaß.“ Weil sie der Amtskirche dann auch noch „Militarismus“ und „Apartheitstheologie gegenüber der Dritten Welt“ vorwarf, verwunderte es nicht, dass sich die Evangelische Kirche vom Auftritt der Pastorin distanzierte. Die Autoren des Buches arbeiten präzise den Anlass der „Politischen Nachtgebete“ heraus: Den letzten Anstoß dazu, sozusagen auf der Suche nach einer Gegenrede zu dem, was in der Welt geschieht, gab der Vietnamkrieg. Er politisierte die Gesellschaft in einem vorher so nicht gekannten Ausmaß. In den „Nachtgebeten“ rang man um die Sprache der Entgegnung. Steffensky verwies darauf, dass die Kirche den ganzen Menschen erreichen muss, dass der Mensch im Ganzen antworten muss, dass es also bei der Predigt nicht nur um das Seelenheil, sondern dass es auch um „sein individuelles und sein gesellschaftliches, sein leibliches und sein geistiges“ Wohl ginge. Das ist der zweite Lernerfolg des Buches: Das Konzept muss Einmischung beinhalten, Einmischung aus der Kirche heraus in die gesellschaftliche Realität. Im Ergebnis der Vietnamdiskussionen versandten die „Nachtbeter“ Briefe an die Bundestagsabgeordneten, die das Thema „Vietnamkrieg“ in den Bundestag hieven sollten. Sie verteilten Flugblätter vor den Gottesdiensten an deren Besucher. Das rief den Verfassungsschutz auf den Plan. 2.000 Menschen beteiligten sich am Schweigemarsch zu Karfreitag 1968 durch Köln. 1972 gingen die „Politischen Nachtgebete“ über in die Bewegung „Christen für den Sozialismus“, einer Bewegung, die im Chile der Allende-Zeit entstanden war. Es ging darum, die Welt in Richtung sozialer Gerechtigkeit zu verändern. Die „Politischen Nachtgebete“ wurden in ihrer Regelmäßigkeit eingestellt, werden aber in loser Folge bis heute gefeiert. Dorothee Sölle schrieb in ihren Erinnerungen: „Sobald unsere Gruppe zu arbeiten begann, traten für fast alle Mitglieder unerwartete Schwierigkeiten mit ihrer Umgebung auf. Nachbarn hörten auf zu grüßen, Freundschaften lösten sich auf, Geschäftsbeziehungen gingen zurück. Manche wurden beschimpft und vom Trottoir gedrängt, als sie Flugblätter verteilten.“ Der Leser erfährt auch, dass der Kölner Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Müller-Armack nach dem Besuch des Gottesdienstes des Mitbegründers der „Nachtgebete“, Pfarrer Frieder Stichler, ihn beim Kirchenpräses Beckmann anzeigte, dass im Gottesdienst von Stichler „eine Auflösung der Theologie in Politik und Ethik betrieben“ werde. Unglaublich, welche Bereitschaft zur Denunziation vorhanden war. Ich bin ein langsamer Leser und habe Sie an einem Lesevergnügen teilnehmen lassen, das mir die Autoren Anselm Weger, Markus Herzberg und Annette Scholl bereitet haben. „Liturgie von links“ heißt das im Grever Verlag Köln erschienene Büchlein. Gestatten Sie mir diesen Nachtrag: Wenn die Kirche eine Kirche für Jedermann sein will und aus diesem Grund konkrete Rede verweigert, verweigert sie sich dem Auftrag dessen, auf dessen Wirken sie sich beruft. Sie wird saft- und kraftlos, schlimmer, sie wird zum unwesentlichen Appendix und fällt am Ende aus der Gesellschaft. 1968 war die Kirche Begleiter der Studentenbewegung und 1989 Begleiter der friedlichen Restauration in der DDR. In der Flüchtlingsfrage, die ganze Völker uneins macht, hört man nur leises Geplätscher. Die Angst der Kirchen, dass sie bei Widerspruch zur offiziellen Flüchtlingspolitik Mitglieder verliere, lässt sie schüchtern reagieren. Man überlässt, so wirkt es, die „Rettung des christlichen Abendlandes“ Pegida. Über die unrühmliche Rolle, die dabei eine Presse spielt, die mit unwürdigen Begriffen wie „Flüchtlingskrise“ jongliert und damit, beabsichtigt oder nicht, die Minderwertigkeit des „ankommenden Menschenmaterials“ deutlich macht und die Bereitschaft zum Pogrom anstachelt. Der vierte Lernerfolg: Die Autoren haben das noch einmal sehr schön anhand des gesellschaftlichen Umfeldes des „Politischen Nachtgebetes“ herausgearbeitet, wie groß seit je die Bereitschaft ist, durch Denunziation aus dem Angebot eines neuen Nachdenkens auszusteigen, durch anonyme Drohungen Einschüchterung zu versuchen. Der Shitstorm ist keine neue Errungenschaft. Er kam damals durchs Telefon.