Prof. Dr. Thomas Kliche, Politikpsychologe von der Hochschule Magdeburg-Stendal, über „kollektive Bequemlichkeitsverblödung“, Globalisierungsschock und deren Folgen, die unweigerlich auf ein Ende der gesellschaftlichen Gemütlichkeit hindeuten.
Herr Prof. Kliche, Sie haben kürzlich den Zustand der Gesellschaft mit „kollektiver Bequemlichkeitsverblödung“ bezeichnet. Welche Indizien bringen Sie zu dieser zuspitzenden Formulierung?
Prof. Dr. Thomas Kliche: Genauer wäre wohl Bequemlichkeitsverblendung, aber die hat auch eine extreme Form. Viele Menschen machen sich auf der einen Seite selbst dumm und blind, auf der anderen Seite handeln sie gerissen und berechnend. Das hilft ihnen, die Folgen ihrer Lebensweise auszublenden und unsere Bequemlichkeit in allen Lebensdingen als selbstverständliche Forderung aufzustellen, besonders an die Politik. Es entsteht ein Alltagsbewusstsein, das die Menschen vor der Einsicht bewahrt, wie ihr Handeln sie und die Welt kaputt macht. Das ist sehr entlastend, psychologisch gesehen, es nimmt einem nämlich die Last der Verantwortung und der Weitsicht. Diese Art von Alltagsbewusstsein ist für viele Menschen mit Regression verbunden, also mit dem Rückfall auf frühere Entwicklungsstufen, mit Verkindlichung, mit Unreife. Das sehen wir an Massenformaten wie diesem Promi-Knast oder Madenfressen im Bikini, also einfach Freude an der Demütigung und geldgierigen Würdelosigkeit anderer Menschen. Die ganze Inszenierung, die Kommentare, alles ist hämisch und auf Erniedrigung anderer gerichtet. An anderen Stellen verwischen unsere Massenmedien gezielt die Grenzen zwischen Einbildung und Wirklichkeit. Das passiert nicht nur in scripted reality-Sendungen, sondern auch im ganzen Internet, wo es dann nur noch um den emotionalen Genuss der eigenen Meinung geht. Wieder andere geben Unsummen für Kosmetik, Modeklamotten und Schönheitschirurgie aus, um sich selbst für ein zerstörerisches soziales Rattenrennen attraktiv zu machen. Man könnte noch vieles anführen: Die Menschen verbringen weit mehr Zeit mit „Klicki-Botschaften“ als mit guten Gesprächen oder Büchern. Sie konsumieren irrsinnige Mengen von Weltuntergangsfilmen. Ihr Auto ist den meisten wichtiger als die Umwelt, also ihre Kinder. Und politisch stecken wir das Geld an die falsche Stelle und wissen das seit Jahrzehnten: in Gymnasien, Unis, Soziale Arbeit, also in die späten Lebensabschnitte, statt in Prävention, Kitas und Grundschulen, wo die riesige gesellschaftliche Rendite liegt. Die Menschen machen diese Entwicklungen selbst, sie können sie selbst sehen, sie konsumieren nach Bequemlichkeit und bejammern dann die Folgen: Alle mögen ihren kleinen Laden um die Ecke, kaufen aber im Discounter, der kleine Laden geht ein. Alle sparen unbedingt ein paar Cent ab Milch und Eiern und wundern sich anschließend, dass das Zeug nicht von glücklichen Biotieren kommt. All das beruht darauf, dass Menschen mehr Angst vor Unbequemtlichkeit, Veränderungen und Erfolglosigkeit haben als Respekt vor Vernunft oder dem Urteil unserer Kinder. Deutlich sichtbar ist das in der Politik: Mehrheiten wählen eine Regierung, damit alles schön ruhig bleibt und die großen Fragen der Zeit keine Rolle spielen. Sie fallen hinterher aus allen Wolken, wenn die Regierung mal nicht für alles sofort eine Lösung hat, denn die wichtigen Dinge sind ja gesellschaftlich ausgeblendet worden. Das Neue daran ist: Dieses Alltagsbewusstsein entsteht industriell, es ist Teil unserer Lebensweise. Wir stellen es jeden Tag neu her, jeder auf seine Weise, und alle zusammen zerstören wir mit unserem Wunsch nach Bequemlichkeit, Luxus und Konsum in sehr absehbarer Zeit die Welt. Das Ergebnis ist schrecklich, unsere Gesellschaft verliert die Gestaltungskraft. Eines der reichsten und sichersten Länder der Welt jammert ständig über die Schrecklichkeit der Dinge und die Zumutungen von Veränderung. Wir zerstören die Welt, durch Müllexporte, Waffenexporte, Treibhausgase, leben saugut davon und wollen die Folgen nicht wahrhaben und nichts ändern, was Gier und Eitelkeit gefährden könnte.
Im kollektiven Bewusstsein wird seit Generationen das Ziel weitergetragen und formuliert, „meinen Kindern soll es mal besser gehen“. Könnte diese Vorstellung eines abstrakten Bessergehens auf eine Wesensnatur treffen, die sich gern bequem einrichtet?
Die menschliche Natur ist außerordentlich anpassungsfähig. Das Erfolgsrezept hieß aber seit unserer Aasfresserzeit in der afrikanischen Steppe Vernunft und Kooperation. Dadurch haben wir unsere Zivilisation entwickelt. Wir müssen jetzt sicherstellen, dass Weitblick, Verantwortung und Verständigung in unserer Gesellschaft wieder ermutigt und belohnt werden.
Ihr Fazit findet breite Zustimmung, aber gleichzeitig die Kritik, dass die Analyse nicht in Lösungsvorschläge mündet. Welche Veränderungen sollte Ihrer Meinung nach die Politik initiieren?
Erstmal klare Veränderungskommunikation: warum es so nicht weitergeht. Und dass wir wirklich ans Eingemachte müssen. Zweitens Entwicklung der Alternativen, die wir heute haben. Die heißen ja bislang nur Reparieren, das macht Merkel, oder Ausgrenzen, das macht die AfD. Aber wo bleibt die internationale Umwelt- und Sozialpolitik, der Aufbau handlungsfähiger europäischer und weltweiter Steuerungsorgane, die vertrauenswürdig und demokratisch sind? Alle Erben der alten Arbeiterbewegung müssen ran und die Werte von Gerechtigkeit und Solidarität und Ausgleich wiederbeleben. Die sind im Sozialstaat und einer Friedensordnung für Europa verfasst. Wir brauchen in den nächsten Jahrzehnten Ausgleich und Frieden weltweit. Grüne, Linke, SPD, Gewerkschaften, Kirchen – egal, wer rangeht, am besten alle zusammen, die müssen die neue Lösung entwickeln, sonst wird es finster.
Sehen Sie überhaupt einen Ausweg aus dem von Ihnen beschriebenen „Globalisierungsschock“?
Psychologisch gesehen sind wir schon unterwegs. Ein Schock steht am Anfang, dann macht man sich auf den Weg, manche langsamer, manche schneller. Deshalb scheinen Teilgruppen unserer Gesellschaft derzeit so spinnefeind zu sein. Eine erste, unreife Reaktion ist die Abwehr durch Verleugnung. Alles Böse soll ausgesperrt werden und die alte Gemütlichkeit ist wieder da. Psychodynamisch verständlich, aber unreif und als Lösungsversuch schwachsinnig. Das sind Brexit, oder die FPÖ in Österreich, die AfD hierzulande. Dann gibt es verschiedene Abstufungen von Suche. Solche Veränderungsbewegungen werden zunehmen. Wir werden neue Ideen, neue Technologie, neue Arten von Verständigung entwickeln, Schritt für Schritt. Und schließlich gibt es Menschen, die einfach zupacken und damit Verantwortungsbewusstsein und Veränderungskompetenz schon heute in die Gesellschaft bringen, an ganz unterschiedlichen Stellen. Tragend sind da die vielen freiwilligen Helfer, das breite Ehrenamt, die Kirchen, die ganze Zivilgesellschaft. Aber die gibt es auch in Parteien und Verbänden, Unternehmen und Politik. Die werden zu Vorbildern und Vordenkern werden. Vernunft, Menschlichkeit und ein sinnvolles Leben sind der sicherste Weg aus jedem Schock.
Brauchen wir komplett neue Maßstäbe, Werte und Einstellungen? Und wenn ja, wer sollte die setzen?
Ja, brauchen wir. Die kann niemand setzen, die entwickeln wir selbst. Am Anfang glaubt man, da stehen ein paar Spinner am Rand, aber die Einsicht wächst. Die Grünen verlieren erstmal einen Wahlkampf mit dem Veggie Day, aber ein paar Jahre später bieten viele Kantinen regelmäßig vegetarische und vegane Gerichte an, weil die Menschen das wollen. Wir stehen weltweit vor neuen sozialen Bewegungen. Es wird darum gehen, die Werte der Arbeiterbewegung, die die Sozialdemokratie für einen funktionierenden Staat zu Grabe getragen hat, neu zu beleben. Dabei treiben uns verschiedene Entwicklungen, es könnte sogar eine Art Katastrophenpädagogik entstehen: Fukushima, Wirtschaftskrisen, Bröckeln am Rand von Europa, Wie Papa Freud meinte: Die Wirklichkeit ist der beste Therapeut. Wenn ich über Handlungsmöglichkeiten der Politik nachdenke, müsste ich allerdings – zugespitzt bezeichnet – schlussfolgern, dass es mehr staatliche bzw. gesellschaftliche Einflussnahme auf Inhalte, Wertevermittlung und Einstellungsentwicklung geben sollte. Dann gewönne meines Erachtens die Tendenz in Richtung autoritärer Staat. Das wollen uns die AfD, die Putins und Trumps verkaufen. Aber dieser Weg ist den neuen Aufgaben nicht gewachsen. Komplexe Gesellschaften und technologischer Wandel lassen sich nicht verordnen und zentral lenken. Erdogan hat als erstes Reisen für Akademiker verboten, sonst könnte er die Unis, die Krankenhäuser und viele Betriebe schon zumachen. China merkt gerade, dass wirtschaftliche Entwicklung durch Qualifikation auch eine selbstbewusste Mittelschicht hervorbringt und dass man nicht Wohlstandsziele beliebig vor Umweltschutz stellen kann. Und bei uns gilt: Je höher die Bildung, desto demokratischer die Überzeugungen, und desto klarer das Bewusstsein für die Unteilbarkeit der Gesellschaft, der Welt, der Vernunft und der Menschenrechte. Unsere Gesellschaft kann nur überleben, wenn sie als ganze neue Lösungen entwickelt. Eine Entwicklungsdiktatur bringt, grob gesprochen, vielleicht neue Technologien hervor, aber keine neuen Entwürfe für eine Gesellschaft, in der sich alle wohl und sicher fühlen können. Es geht also gerade nicht darum, dass ein mächtiger Staat und ein weiser Führer alles für uns regelt, sondern ums Gegenteil: Große Mehrheiten von Menschen müssen mehr Verantwortung zeigen, besser füreinander einstehen, besser zusammenwirken, mehr Mitgefühl und Menschlichkeit und Augenmaß zeigen.
Glauben Sie wirklich, dass es einen selbstorganisierenden Prozess einer breiten Bewegung geben wird, der – vor allem unter den Mechanismen des Kapitalismus – aus dem Dilemma herausführt?
Die Alternative hieße halt Barbarei und die Marginalisierung Europas, also das Ende von Wohlstand und Sicherheit. Mehr als es zu versuchen, können wir nicht. Wir müssen ausprobieren, was wir erreichen.
Sind Krisen bzw. Katastrophen nicht doch notwendige Ausgangspunkte oder wichtige Wendeauslöser, um ein breites neues Bewusstsein und schließlich ein verändertes Verhalten großer Menschengruppen zu erzeugen?
Krise für sich macht nicht schlauer, sondern kaputt. Unsere Gesellschaft leitet vorrangig zu Illusionen und Rückzug in den Konsum an. Einsicht, Verantwortung und Selbstorganisation müssen also zur Krise hinzukommen. Das gelingt einigen Menschen schon. Noch sind sie eine Minderheit. Die Psychologie zeigt, dass konsistent auftretende, hartnäckige Minderheiten Normen, Werte, Denken und Verhalten von Mehrheiten verändern können. Die Geschichte unterzieht jetzt unsere Generationen einer moralischen Bewährungsprobe.
Fragen: Thomas Wischnewski