Der Osten macht Wind

310716PG_1.FCM43Der Aufschwung ist nicht zu übersehen: Erstmals seit sieben Jahren mischt ein Klub aus den neuen Ländern wieder in der Bundesliga mit. Und weitere neun Vereine aus der Region zwischen Ostsee und Erzgebirge, soviel wie lange nicht, sind 2016/17 im deutschen Profifußball vertreten. Von Rudi Bartlitz

Es ist noch keine drei Jahre her, da ergingen sich Experten und viele, auch seriöse Medien darin, den Ostfußball vor einem Rückfall in eine Art Steinzeit zu sehen. Wenn nicht sogar schon mittendrin. Von einer „verödeten Landschaft“ (FAZ) war die Rede, von einem Sport, der „vom großen Fußball Lichtjahre entfernt ist“ (Ex-Cottbus- und Dresden-Trainer Eduard Geyer), der „von der Landkarte verschwindet“ (Die Zeit). Gewiss, mit ein bisschen Hysterie und vielleicht auch Häme konnte man das so sehen. Zumal die Fakten jener Zeit die schlimmsten Befürchtungen zu stützen schienen. Kein Erst-Bundesligist weit und breit (nimmt man einmal den mit ganz anderen Voraussetzungen antretenden jahrzehntelangen Westklub Hertha BSC Berlin aus, der vom DFB rein formal zum Osten gezählt wird), zwei Klubs in der zweiten Liga, vier bis fünf, die bis auf die Ausnahme RB Leipzig in der dritten Liga zu überleben versuchten. Schnitt. Man reibt sich die Augen: Wie ganz anders, und wie hoffnungsvoller!, schaut das Bild im Hochsommer 2016 aus. Bleiben wir zunächst einmal bei den Fakten. Nach sieben Jahren in der Diaspora hat der Osten dank RB Leipzig endlich wieder einen Erstligisten. Mit Union Berlin, Dynamo Dresden und Erzgebirge Aue sind in der zweithöchsten Klasse diesmal schon drei aus dem Osten dabei. Nur die dritte Liga verliert ein wenig von ihrem Nimbus, so etwas wie die „Bundesliga des Ostens“ zu sein: statt acht wie 2015/16 tummeln sich dort künftig noch sechs Klubs aus den neuen Bundesländern (Magdeburg, Chemnitz, Halle, Erfurt, Rostock, Zwickau). Doch der Grund dafür ist überwiegend erfreulich, denn mit den beiden Sachsen-Klubs Dresden und Aue schafften zwei den ersehnten Sprung nach oben, nur Cottbus musste in den bitteren Apfel des Abstiegs in Liga vier beißen. Auf den Sonderfall RB Leipzig, zunächst einmal geflissentlich ausgeklammert, stößt der Betrachter bei der Suche nach den Ursachen dieses Kicker-Hochs – bei aller Unterschiedlichkeit der Bewertung an einzelnen Standorten – immer wieder auf zwei Gründe. Da ist zum einen ein neuer Geist, der Schritt für Schritt in die Chefetagen der Klubs eingezogen ist. Es verbreitet sich Aufbruchsstimmung, brüchig noch, aber sie ist da. Verbunden mit neuen Namen bei Präsidenten, Managern oder Sportdirektoren. Natürlich hat es einige Jahre gedauert, bevor diese mit ihren Ideen, vor allem aber mit ihrer seriösen Art zu arbeiten, erste Erfolge vorweisen können. Das hat heute teilweise nur noch wenig zu tun mit jenen einstigen Haufen abgehängter Traditionsklubs, die, mit reichlich Selbstmitleid versehen, in der Dritt- oder Viertklassigkeit ihr Dasein fristeten und sich in Nostalgie ergingen, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR. Und die Auswirkungen des Wegbruchs der kompletten materiellen Basis (Großbetriebe, Polizei und Armee als Sponsoren) nach 1990, das darf natürlich nicht übersehen werden, waren langwieriger als selbst die größten Pessimisten befürchtet hatten. Marktwirtschaft musste erlernt werden, etwa 150 der besten DDR-Fußballer wechselten in den ersten Jahren nach der Wende von Ost nach West. Das ist etwa der komplette Kader von sieben Mannschaften. Es blieb der Rest, der im Westen nicht unterkam. Unbekannte Namen. Hinzu kommt: Zu tief waren die Wunden, die Scharlatane und Selbstdarsteller nach der Wende in den Klubs gerissen hatten. „Ich denke, viele Vereine hatten ein Defizit im Verständnis, wie Fußball betrieben werden muss“, sagt Ost-Legende Geyer dazu. „Zu wenig Fußballverstand, zu viel Narzissmus.“ Zaubern kann die neue Generation in den Klubführungen im Osten freilich auch heute nicht. Hier sitzen keine großen Konzerne, und wenn, stehen die Zentralen im Westen. Das große Geld fließt woanders, noch immer und vermutlich auch noch lange. Trotzdem: Wenn man sich ein wenig umhört, ist so etwas zu spüren wie vorsichtiger Optimismus. Der Eindruck, dass da wieder etwas wächst, selbst wenn es noch einiger Phantasie bedarf, sich zwischen Ostsee und Erzgebirge wahrhaft blühende Fußball-Landschaften vorzustellen. Ein zweiter Grund für den neuen Aufschwung Ost scheint die 2008 ins Leben gerufene dritte Liga zu sein – samt all ihrer Nebengeräusche. Vielleicht nicht gleich in den Anfangsjahren, aber spätestens seit die Liga 2015 so etwas wie eine Bundesliga des Osten geworden ist – mit acht Teams aus den neuen Ländern – wirkt sie wie eine Art Katalysator. Ein Durchlauferhitzer. Diese Derbys, 56 an der Zahl, sorgten noch einmal für neuen Aufbruch und für finanzielle Anreize. Und noch etwas hängt mit dieser Liga zusammen: Die materielle Basis in den einzelnen Städten hat sich enorm verbessert. Die meisten Klubs (Leipzig, Dresden, Rostock, Magdeburg, Halle, Chemnitz, Erfurt) verfügen inzwischen über ein Stadion, das modernen Ansprüchen genügt. Das in Zwickau ist fast fertig, in Aue wird kräftig gebaut. Es sind Arenen, die die der West-Drittligisten in der Regel glatt ausstechen. Sieben der neun Klubs verfügen mittlerweile über ein vom Deutschen Fußball-Bund zertifiziertes Nachwuchsleistungszentrum, Halle will noch nachziehen. Nicht unterschätzt werden sollte beim erfreulichen Aufschwung die Rolle des Fernsehens. Als Multiplikator ist es – Internet hin, Internet her – unersetzlich. Der MDR (Slogan: „Bei uns ist der Fußball zu Hause“) sendet, was das Zeug hält: Fast an jedem Wochenende ein Live-Spiel, manchmal auch zwei, dazu viele andere im Internet-Stream. Insgesamt 70 Live-Partien. Das gab es noch nie auf deutschen Bildschirmen, kein anderes Regionalprogramm vermag da mitzuhalten. Die Freunde des runden Leders honorieren es. Einschaltquoten: zwischen zehn und zwanzig Prozent. Sportchef Rajko Richter: „Die zurückliegende Saison war für uns ein toller Erfolg.“ Trotz der vielen TV-Begegnungen, die eigentlich als Zuschauerbremse wirken müssten, meldete die Liga mit erstmals mehr als 7.000 Besuchern pro Spiel einen neuen Rekord, inbegriffen sind da wohlgemerkt auch solche Abtörner wie Großaspach gegen Mainz II. Ein Rekord, der nahezu allein auf die Kappe der Ostvereine kommt. Gespannt blickt der Fußball-Osten ab Ende August nach Leipzig. Dort wird erstmals seit sieben Jahren Bundesliga zelebriert. Man gehört wieder ein bisschen dazu zur Beletage im Lande des Weltmeisters, für viele Kicker-Freunde hierzulande ein erhabenes Gefühl. Endlich wieder einmal die Bayern, Dortmund oder Gladbach hautnah erleben – und das eben nicht in belanglosen Tests oder Charity- und Benefiz-Veranstaltungen, so honorabel sie auch sein mögen. Nun ist das Projekt RB Leipzig, mit dem der österreichische Brause-Gigant Red Bull um Absatz und Ansehen buhlt, weiß Gott nicht unumstritten. In Leipzig würden sie mit dem Geld nur so um sich werfen, wird ihnen vorgeworfen. Sie seien ein Plastik-Klub ohne jegliche Tradition. Doch ein anderes Modell als das eines Großinvestors scheint im Osten derzeit nicht möglich, wenn man ganz nach oben will. Und da wollen die Leipziger hin. Unbedingt und mit Macht. Red-Bull-Gründer und Milliardär Dietrich Mateschitz hat das Ziel vorgeben: Bis zu seinem 80. Geburtstag will er in der Messestadt die Meisterschale in der Hand halten. Und natürlich vorher schon in der Champions League mitspielen. Wie immer man die Klub-Neugründung auch sehen mag: Die Leipziger Fans jedenfalls haben ihren Frieden gemacht mit den Bullen. Ungewöhnlich: Der Bundesliga-Novize hat sich selbst eine Gehaltsobergrenze verordnet. Mehr als drei Millionen Euro darf kein Spieler verdienen, im heutigen Milliardengeschäft Fußball eine zumindest bemerkenswerte Maßnahme. RB-Chef Mintzlaff („In drei bis fünf Jahren wird der internationale Fußball nach Leipzig kommen“) rechnet mit vielen ausverkauften Spielen in der Red Bull Arena, die eine Kapazität von knapp 43.000 Zuschauern hat. Eine neue Machbarkeitsstudie zur Erweiterung auf 57.000 ist schon fertig. Geprüft wird auch ein Neubau außerhalb von Leipzig. Das sind Dimensionen, an die selbst im fußballverrückten Dresden derzeit niemand zu denken wagt. Dennoch: Dynamo hat sich mit einem Parforceritt durch die dritte Liga wieder in die Zweitklassigkeit gespielt. Dem Verein, der nach beispielloser Misswirtschaft schon bis in die Viertklassigkeit durchgereicht worden war, sind vom Potenzial und der Begeisterung der Fans her eigentlich seit jeher die größten Aussichten auf die erste Liga nachgesagt worden. Nun gilt es zunächst, sich in der zweithöchsten Klasse zu stabilisieren. Dabei sind nicht nur die ökonomischen Bedingungen in Elbflorenz, einst der „FC Bayern des Ostens“, weit besser als im kleinen Gallierdorf Aue, wo nach dem Abstieg zu Saisonbeginn 2015 eine völlig neue Mannschaft zusammengestellt worden war, der sofort wieder der Aufstieg gelang. Und die Magdeburger? Für den FCM ist das Schönste am Höhenflug der Ost-Kicker ganz sicher die Tatsache, dass er nicht nur irgendwie dabei, sondern mittendrin ist. Ein gerüttelt Maß der phantastischen Stimmung in den Stadien geht auf das Konto der Magdeburger. Die zurückliegende glanzvolle Spielzeit und der vierte Platz des Aufsteigers haben in ganz Deutschland für Gesprächsstoff gesorgt. Die einmalige Stimmung in der Getec-Arena – viel besser kann es, das bestätigten viele neutrale Besucher und so mancher Vereinsboss aus dem Westen, in einem Bundesliga-Stadion auch kaum sein. Mit einem Zuschauerschnitt von über 18.000, dem zweitbesten in Liga drei, übertraf der FCM schon so manchen Zweitliga-Klub, darunter so große Namen wie Bielefeld, Duisburg oder Karlsruhe. Dennoch, am Heinz-Krügel-Platz in Ostelbien tritt man schon mal gehörig auf die Euphoriebremse. Und das ungeachtet des völlig misslungenen Starts mit der 0:3-Heimniederlage gegen Fortuna Köln, der die zurückhaltenden Stimmen zunächst zu bestätigen scheint. Gibt es so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner der Meinungen aus der Führungsetage, dann ließe der sich so zusammenfassen: Wir wollen mit dem Abstieg erneut nichts zu tun haben. Die magischen 45 Punkte, die erst einmal geholt werden müssten, machen erneut die Runde. Nein, nein, sagte auch Trainer Jens Härtel schon im Frühsommer MAGDEBURG KOMPAKT, zu den Aufstiegsfavoriten gehörten die Blau-Weißen keineswegs. Man bleibe mal schön auf dem Boden. Richtig ist sicher, dass die zweite Saison in einer neuen Spielklasse in der Regel schwerer wird als die erste und der Klub mit seinen finanziellen Möglichkeiten eher in der unteren Tabellenhälfte anzusiedeln ist. Und richtig ist ebenso, dass die Namen der sieben Neuzugänge verwegene spielerische Höhenflüge zunächst einmal verbieten. Trotzdem: Es würde Magdeburg und dem Ostfußball sicher guttun, wenn sich einige dieser Prognosen am Ende als falsch erweisen sollten.

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