Ein Plädoyer gegen die Verbreitung grenzenloser Illusionen – Von Thomas Wischnewski
Freiheit ist ein großes Wort und häufig führt man es im Munde. Seit der griechischen Philosophie wird über den Freiheitsbegriff nachgedacht. Aber erst die römischen Denker der Stoa entwickelten ein weitgehendes Verständnis von Freiheit über die Privilegien der Oberschichten hinaus, indem erstmals historisch die Sklaverei verurteilt wurde. Lateinisch Libertas galt vor allem als individuelle Freiheit von den Zwängen der Welt. Der Begriff unterliegt über Jahrhunderte einer ständigen Diskussion und Neubewertung. Die historisch bedeutsamen Wandlungen zur Freiheit wie Aufklärung oder die Franzöische Revolution sind allseits bekannt. An dieser Stelle soll auch kein philosophischer Diskurs über das Wort geführt, sondern Aspekte aufgezeigt werden, wie die Bedeutung von Freiheit uneingeschränkt über alles gelegt wird. Stellenweise erscheint die Vokabel gar wie der Inbegriff einer modernen Religion, so als könnte man allein mit einem freiheitlichen Verständnis jede Gesellschaftsordnung gestalten.
Zunächst soll das Individuum betrachtet werden. Jeder macht sich quasi seinen eigenen Reim von Freiheit. Das ist notwendig und richtig. Denn das Wort ist grundsätzlich keine objektive Sache, sondern eher ein geistiger Stoff. Allerdings verbinden die meisten Menschen den Freiheitsbegriff mit alltäglichen Wahlmöglichkeiten oder mit Gelegenheiten, in nahe und entlegende Länder zu reisen. Insbesondere das Reisen gilt als Ausdruck einer freien Bewegung über Staatsgrenzen hinweg. Es mag unwichtig erscheinen, wie das jeder für sich bezeichnet, aber die Verschmelzung von konkreten Handlungsmöglichkeiten mit der Vorstellung eines freien Geistes erzeugt paradoxe Phänomene. Und hier greift die individuelle Idee schnell in eine gesellschaftliche über. Wir müssten uns nämlich stets am staatsrechtlichen Konstrukt einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft stoßen, wenn man bedenkt, dass eine wachsende Anzahl an Bürgern in diesem Land allein wegen ihrer finanziellen Situation an dieser Art Freiheit gar nicht teilhaben kann. Aber auch jeder, der über ein ordentliches Auskommen verfügt, wird immerfort an die Zwänge erinnert, in dem das Leben ablaufen muss. Nimmt man zahlreiche phsychologische Studien über Anforderungen in der Arbeitswelt zur Hand, müsste daraus folgen, dass aufgrund permanenter Kommunikation, Erfüllungsdruck und zunehmender Aufgabenfülle Gefühle von Unfreiheit auf dem Vormarsch sind. Dazu summieren sich die privaten Verantwortungen gegenüber Kindern und Familie, die in der Wahrnehmung freiheitseinschränkend wirken.
Natürlich kann diesen Wirkweisen schnell das Argument entgegengehalten werden, es würde ja niemand zum Kinderkriegen oder gar in ein abhängiges Arbeitsverhältnis gezwungen. Bei letzterem wäre man dann wieder im Kreis einschränkender finanzieller Möglichkeiten, die offensichtlich kein Ausdruck eines freiheitlichen Empfindens sein können. Das Internet vermittelt eine schöne neue Form der Freiheit. Man kann sich verbinden mit wem man will, sich zu jeder Zeit über alles informieren und glaubt sich in einer Spähre unbegrenzter Freiheit. Welches Zwangsverhalten mit einer überwertigen Nutzung einhergeht, wird gern verdrängt. Befreien Sie einen Heranwachsenden mal für mehrere Tage vom Smartphone oder PC. Im Vergleich würde eine angedrohte Gefängnisstrafe als lächerliche Lapalie gewertet werden. Ist das Freiheit? Wohl kaum.
Ein Blick in die wirtschaftliche Freiheit: Jeder kann die Möglichkeit nutzen und mit einer guten Idee ein Unternehmen gründen. Doch was ist mit den Firmen, vor allem innerhalb des globalen Finanzkapitals, die in Bruchteilen von Sekunden Millarden an Vermögenswerten verschieben können, und zwar frei von nationaler oder staatsbürgerlicher Verantwortung? Politische Steuerung, die nationale Interessen eines Staates gewährleisten sollten, laufen in der Freiheit globaler Wirtschaftsakteure ins Leere. Auf der anderen Seite erscheinen die regulativen Hürden, die beachtet werden müssen, um in Deutschland genehmigungskonform einen kleinen Betrieb aufzubauen, weiter anzuwachsen. Die Relation von Freiheit hat eben viele Facetten.
Wie stehen eigentlich solche Menschen zur Freiheit, die das Leben als schicksalhaft vorherbestimmt begreifen? Paradoxerweise müssten sie aus der Gemeinschaft der Freiheitsbefürworter heraustreten. Jeder Schritt, den sie setzten, wäre schließlich keine aus sich selbst heraus entstandene Handlung. Vertrackt erscheint derzeit ebenfalls ein Disput zwischen Neurowissenschaftlern, Philosophen und Sozialwissenschaftlern. Die Experimente des US-amerikanischen Hirnphysiologen Benjamin Libet (1916 – 2007) belegen, das bei den Hirnregionen, die eigentlich für eine willentliche Entscheidung verantwortlich sein sollen, offensichtlich ein Impuls aus einem vorgelagerten Bereich gemessen wurde. Versuchspersonen sollten einen Finger heben, aber im Zeitraum von 10 Sekunden selbst entscheiden, wann sie dies täten. Dort, wo der eigene Wille sagen müsste, jetzt hebe ich den Finger, wurde an anderer Stelle ein zeitlich früheres Bereitschaftspotenzial ergründet. Wegen dieses und zahlreicher Folgeexperimente hegen Wissenschaftler Zweifel an einer gänzlich freien Entscheidung im Menschen. Hätten diese Schlussfolgerungen tatsächlich einen allumfassenden Ansatz würde der Standpunkt über einen freien Willen arg ins Wanken geraten. Was Neurowissenschaftler in dieser Argumentationskette selten einräumen, ist die Tatsache, dass sie den Erklärungen über die wirkliche Komplexität unseres Denkens und der Gesamtfunktionalität des Gehirns noch nicht sehr nah gekommen sind. Bisher kann beispielsweise niemand erklären, wie sich im biologischen Zentrum unseres Bewusstseins ein Begriff oder gar eine Bedeutung abbilden. Möglicherweise reicht die heutige Methodik, eine reihenweise Verkettung von Impulsen zu messen nicht aus, um dem übermächtigen Vernetzungscharakter des Hirns mit Beschreibungen gerecht zu werden. Man kann sich vorerst beruhigt zurücklehnen und nach wie vor frei fühlen.
Entscheidener ist jedoch der Blick auf die Politik. Hier gilt Freiheit als die oberste Maxime aller Zielsetzungen. Jede politische Programmatik will sich an den Garantien über Freiheitsrechte messen lassen. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Entscheidungsfreiheit, die Freiheit, das eigene Leben zu gestalten – all das sollen Fundamente unserer Grundordnung sein. Für Bürger, die aufgrund schmaler Existenzgrundlagen wenig Spielräume finden, innerhalb derer sie solche Räume mit Inhalt füllen könnten, bleibt Freiheit vielfach ein abstraktes Paradoxon. Dennoch wabert der Begriff permanent durch alle politischen Verkündigungen. Wer wirtschaftlich frei von angemessenem Einkommen ist, dem kommen solche Proklamationen eher vor wie ein abstraktes Freiheitsdikat. Natürlich kann man ständig von Freiheit reden, ohne in der Lage zu sein, wirklich viel davon zu verwirklichen.
Mittlerweile gibt es politische Polemik, die beklagt, dass die gesellschaftliche Atmosphäre dadurch vergiftet sei, dass man nicht mehr frei sagen könnte, was man im Staate Deutschland kritisch erfasst hat. Der Vorwurf lautet vielfach, dass eine vorgeschriebene „political correctness“ dies verhindern würde. Genau das ist ein Freiheitsparadoxon. Die Tatsache, dass man genau diese Klage öffentlich behaupten darf, ist nämlich ein Beleg für Meinungsfreiheit.
Ganz kompliziert wird der Freiheitsbegriff, wenn davon geredet wird, dass unsere Freiheit verteidigt werden muss. Entweder irren Politiker gewaltig, wenn sie so etwas behaupten oder – was wahrscheinlicher ist – sie nutzen das Wort vorsätzlich in diesem verdrehten Zusammenhang. Jeder Zwang – insbesondere solcher, der mit Gewalt ausgeübt wird – ist freiheitseinschränkend. Wenn es irgendwo in dieser Welt um die Verteidigung europäischer Werte gehen soll, ist dies zunächst eine Verteidigung ureigendster Interessen. Wenn wir unsere Lebensweise in Deutschland oder Europa bedroht sehen, ist islamistischer Terror – so verabscheuenswürdig er ist – in Wahrheit nur eine geringe Gefahr. In der viel größeren geht es längst um knallharte Verteilungskämpfe. Ehrlich eingestanden ist die Freiheit, die wir in unserer Lebensweise verstehen wollen, nämlich eine auf einem vertraut gewordenen Lebensstand. Wollte der größere Teil der Weltbevölkerung auch nur annähernd unseren Handlungsfreiheiten nacheifern, wäre es mit unseren Möglichkeiten bald vorbei. Endliche Ressourcen treffen auf ein unendliches Freiheitsverständnis. Deshalb erscheint es dringend geboten, dass man sich von grenzenlosen Illusionen über die moderne Art religiöser Freiheitenpredigten löst. Wenn unsere nationalen Interessen bedroht sein sollten und deren Verteidigung unter Anwendung militärischer Gewalt unabdingbar erschiene, verkehrte sich Freiheit in ihr Gegenteil. Politiker sind aufgerufen hier keine Verklärung mit dem Freiheitsbegriff zu betreiben. Wir würden vielleicht unsere bisher gelebte Handlungsfreiheit aufrechterhalten wollen, aber niemals kann Freiheit unter gewaltsamen Zwang existent sein. Krieg ist keine Form von Freiheit, sondern eine perverse Form von Unfreiheit. Die schwelenden Konfliktherde, die offenbar immer engere Kreise um Europa und Deutschland ziehen, fressen längst an den sicher geglaubten Vorstellungen von Freiheit. Trotzdem befördert man mit dem Begriff politisch unablässig einen Glauben, dass Freiheit wie eine festziehbare Schraube funktionierte. Ein echter Ansatz von Freiheit steht in unserem Grundgesetz. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es. Das bedeutet zweierlei. Erstens, dass man sie nicht nur nicht berühren darf, sondern auch, dass man sie gar nicht fassen kann. Daraus folgt Zweitens: Jeder hat genau dieselbe unfassbare Würde, und das Anerkenntnis dieser Vorstellung ist die wichtigste Freiheit, die wir im Geiste erzeugen können. Alles andere ist ein an Zeit und konkrete Bedingungen geknüpftes Geschehen. Freiheit ist entweder paradox oder manchmal ein diktierter Glaube, der maximal grenzenlose Illusionen erzeugt, aber wenig Realität.