Ich bin ein langsamer Leser – Gärmanisten säen das Gans entschpannt

schumannAls langsahmer Lehser kam mier doch neulich eine Mäldung unter, die mier ausgesprochen gut taht: Also seit der Rechtschreibreform, die jätzt zwanzich Jaare alt wurde, hat sich die Fählerquote der Schüler verfielfacht. Was nach dem Germanisten Uwe Grund, der die Studie leitete, heißt (oder heisst?): „Gleiche orthografische Aufgaben werden häufiger falsch gelöst als vor der Reform.“ Was wiederum nicht heißen muss, dass die Reform ihr Ziel verfehlt hat, sondern auch heißen kann, die Missachtung rechtschreiblicher Regeln ist eher Teil des gegenwärtigen Lebenskonzepts, in dem ohnehin eher keine Regeln oder aber nur noch die verabredeten Regeln kleiner Grüppchen gelten. Die Gesellschaft verliert ihren Konsens und löst sich auf in lauter Mikrogesellschaften mit eigenen, für sie geschaffenen Regeln, die lediglich der Zugehörigkeitserkennung dienen. Wir brauchen gar keinen verheerenden Atombombenangriff dafür, wie früher in den einschlägigen Filmen suggeriert wurde, die Zersetzung in Mikrogesellschaften hat längst begonnen.

Aber darauf wollte ich ja gar nicht hinaus. Vielmehr, was der Germanist Uwe Grund da feststellte, ist tägliche Ansicht der Dinge für jeden Lehrer in den Schulen Deutschlands. Die einzigen, die da im Tal der Ahnungslosen zu wohnen scheinen, sind Schulämter und das Bildungsministerium. Wahrscheinlich finden sie die Lesart der Deutschlehrerin und Vorsitzenden des Fachverbandes Deutsch im Deutschen Germanistenverband, Betty Kennedy, schicker, die die Situation entspannter sieht: „Natürlich versucht man Texte zu schreiben. Man korrigiert sie auch. Man kann im Unterricht auch Einheiten kreieren, bei denen man sich speziell auf die Rechtschreibung konzentriert. Das gehört ganz klar mit zum Curriculum. Aber es ist eine Teilleistung unter anderen Teilleistungen. Den Stellenwert, den es eben früher hatte, als auf andere Dinge dafür vielleicht nicht so viel Wert gelegt wurde, der ist dann doch geschwunden.“ (MDR). Zu gut deutsch: Man kann sicherlich eine Brücke bauen und sich für einen Baustoff entschließen, man hat früher mal auf die Festigkeit der Brücke wertgelegt. Das ist heute nur eine Teilleistung unter anderen Teilleistungen. Sie muss auch eine bestimmte Ästhetik haben und wenn wir der Meinung sind, dass Papier als Werkstoff besser passt als Stahl oder Beton, können wir letztlich nichts dafür, dass der Zug dieses vorher unberechenbare Gewicht hatte, für das offensichtlich das Papier nicht das geeignete…äh.

Können Sie einen Chef noch ernst nehmen, der Ihnen die Anweisung schriftlich erteilt: „Sehr geerte Dahmen und Heeren, in unserer Firma giept es eine Gleiterordnung, an die sich bite alle halten wollen.“ In den Zeiten digitaler Kommunikation halten nur noch ein paar Ewiggestrige an einer ordentlichen Rechtschreibung fest. Es geht um schnelle Kommunikation, nicht um die Feinheiten einer extraordinären Sprache, die ohnehin niemand mehr so spricht, wie sie einmal gemeint war.

Und nun gibt es zwei Lager, die sich heftig bekämpfen: In einer 2014 durchgeführten repräsentativen Expertenumfrage von „forsa.“ meint die Mehrheit der 100 befragten Linguisten, dass insbesondere der Wortschatz durch eine vermehrte Nutzung digitaler Medien reicher wird. „Durch digitale Medien verfällt die Sprache nicht, sie entwickelt sich weiter und wird vielseitiger“, argumentiert Prof. Dr. Heike Wiese, Professorin für die Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam und Sprecherin des Zentrums für Sprache, Variation und Migration. Laut den Experten führt die digitale Kommunikation vor allem zu mehr Wortschöpfungen. Heike Wiese wird in einem Beitrag von „Die Digitale Gesellschaft“ von 2014 zitiert: „Jugendliche können zwischen verschiedenen Textarten wie SMS, mündlicher und geschriebener Sprache einfach switchen. Durch digitale Medien verfällt die Sprache nicht, sie entwickelt sich weiter und wird vielseitiger.“ Zu dieser Vielseitigkeit gehört auch die festgestellte Veränderung der Grammatik, Rechtschreibung und Interpunktion. Wenn ich das recht verstehe, wird der Duden in seiner bisher bindenden Funktion für die Regeln von Grammatik, Rechtschreibung und Interpunktion durch den Gebrauch von Sprache im Internet entbunden. Die neuen Regeln stehen nicht gesellschaftlich verabredet fest, sondern ergeben sich aus dem individuellen Gebrauch, sind sozusagen oberflächenwasserartig veränderlich: Die Rächtschreibung ist dann so flexibel wies Lähm an sich. Iss doch geil, oder? In der Folge kommt es nach der forsa.-Untersuchung auch zu einer Vereinfachung der Satzstruktur, so dass Kommata in Zukunft Seltenheitswert haben, wahrscheinlich eh nur in ausgeschriebenen Briefen vorkommen, und wer, bitte schön, schreibt im SMS-Zeitalter noch Briefe? Man kann natürlich die Vernachlässigung der Rechtschreibung zum Zielpunkt der Anklage machen, aber charmanter klingt es, wenn man in diesem Zusammenhang eher mit der Einbeziehung kreativer neuer Formen und Abkürzungen argumentiert.

Jan Klage, ehemals Marketingleiter der FAZ, sagt: „Waren wir früher ein Volk weniger Dichter und Denker, denen eine überwältigende Mehrheit von des Lesens und Schreibens unkundiger Menschen gegenüberstand, so sind wir heute ein Volk weniger Dichter und Denker, die sich gegen eine schreibwütige digitale Mehrheit behaupten muss. Eine Mehrheit, die sich orthografisch nahezu ausnahmslos dem digitalen Diktat aus Geschwindigkeit und Platzmangel hingibt.“ Das hört sich formal geistreich formuliert an, lässt aber außer Acht, dass die Schulen vergangener Zeiten eine sehr gute Bildung bezüglich der Rechtschreibung und des Kopfrechnens boten, während heute immerhin sieben Millionen Menschen in Deutschland weder lesen noch schreiben können, es bleibt also nicht viel Wahres am Bonmot. Aber die Idee des digitalen Diktats ist einleuchtend. Will sagen: Wir werden allmählich Zeuge, wie das Internet uns nicht wie versprochen immer mehr Welteinsicht ermöglicht, immer mehr Gestaltungsmöglichkeiten an die Hand gibt, sondern wie im Gegenteil (nicht absichtslos) u.a. auch mit der Aufhebung bindender Regeln in der Rechtschreibung (das war unsere Ausgangsbasis) die Regeln, die den Konsens einer Gesellschaft ausmachen, aufhebt und den Konsens schlichtweg fragmentiert, ohne ihn zu ersetzen. Man hört in letzter Zeit öfter den Satz: „Der Preis der Freiheit ist die Vereinzelung, auch die damit verbundene Einsamkeit.“ Wir lernen gerade ein neues, nämlich das ALPHABET des Kapitalismus in der Endphase, das ALPHABET des Eric Schmidt, der nach eigener Aussage nie auf die Idee käme, Google zu nutzen. Ein Konzern, der sich so nennt, kann guten Gewissens der Hybris verdächtigt werden. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Die positive, die sich dem Diktat von ALPHABET beugt und entspannt auf die Veränderung beispielsweise auch in der Sprache schaut. Die andere, vielleicht sogar konservative, die mit Besorgnis auf die Veränderungen schaut, nicht weil sie die positiven Seiten der Möglichkeiten, die das Internet bietet, nicht erkennt, sondern die davor warnt, sich abhängig zu machen von einem inzwischen durch wenige Konzerne gekaperten eben nicht mehr Freiraums, in dessen Folge die Aufhebung des gesellschaftlichen Konsenses zur gewünschten Vereinzelung führt, die ein Sich-Wehren nicht mehr möglich macht. Eigentlich gingen wir von einer so harmlosen Beobachtung aus, dass in diesen Tagen die Rechtschreibung ein Stiefkind des Unterrichts ist, oder?