Die Zerstörung der Kohärenz

IMG_9454Als Ingenieur lernte ich den Begriff der „Kohärenz“ (lat.: cohaerere = zusammenhängen) beim Studium der „Wellenoptik“ kennen. Lichtwellen sind kohärent, wenn sie in gleicher Frequenz und gleicher Ebene schwingen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so kann das Licht interferieren, sich also, je nach Phasenlage, verstärken oder auslöschen. Der Begriff der Kohärenz taucht auch in der Psychologie und Psychiatrie auf. Dort ist gemeint, dass der Gedankengang eines Menschen in sich logisch, zusammenhängend und nachvollziehbar sein sollte. Ist das nicht der Fall, wird von Inkohärenz gesprochen und je nach Schwere der Störung lassen sich vielfältige Krankheitsbilder diagnostizieren. Das kann aber berufsbedingt nicht mein Thema sein. Mir geht es um das Bild der Kohärenz als Metapher für eine gesellschaftliche Erscheinung, die mich zunehmend besorgt macht, die leider aber auch Verbindungen zu Krankheitsbildern assoziiert.

Wir alle kennen den Handy-Junkie. Er kann den Blick nicht vom Gerät lassen, egal ob in der Straßenbahn, auf der Straße oder gar auf dem Fahrrad oder sogar am Steuer eines Autos. Das wäre an sich – wenn die Aufmerksamkeit für den Rest der Welt noch irgendwie ein bisschen erhalten bliebe – eher ein individuelles Problem. Die unlängst beobachtbare Pokémon-Massenhysterie zeigt allerdings einen bedenklichen gesellschaftlichen Extremfall. Eine andere Massenerscheinung ist leider schon gesellschaftlicher Normalfall geworden. Zunehmend treffen wir auf Menschen, die sich nicht mehr auf ein außerhalb des Handys liegendes Ereignis konzentrieren können. Ich will hier deshalb auch von Inkohärenz sprechen, wenn mein Gegenüber nach jedem gesprochenen Satz mit leicht gesengtem Blick auf das Handy oder sogar mit dreister Unaufmerksamkeit mir gegenüber prüft, ob eine Nachricht eingegangen ist. Was soll das? Ist die Nachricht von einer derart welterschütternden oder für die Weiterexistenz des Individuums zentraler Bedeutung, dass keine zehn Sekunden vergehen dürfen, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen?

Kohärenz bedeutet jetzt, dass sich mein Gesprächspartner auf das Gespräch einlässt, mitdenkt, hinreichend zuhört, im besten Fall meine Argumente prüft, vernünftig erwidert usw., sich mit mir also sozusagen in einem gewissen Zustand der „verstärkenden Interferenz“ befindet. Unter den oben genannten Bedingungen ist ein Gespräch sinnlos. Aber nicht nur das. Als Hochschullehrer habe ich jahrzehntelang Studenten betreut und eine bedauerliche Beobachtung machen müssen: In den letzten Jahren verschwanden bei den Studenten zunehmend die erforderliche Aufmerksamkeit, der Wille zum Durchhalten, die zeitlich notwendige Askese beim Lernen. Zerrissenheit, permanente Ablenkung jetzt durch das Smart-phone verhindern Kohärenz, die Konzentration auf die Sache, sozusagen das Schwingen in gleicher Frequenz und Schwingungsebene zwischen dem Lernenden und dem anzueignenden Stoff. Ergebnisse einer derartigen Entfremdung sind nicht nur schlechte Noten, sondern auch Unzufriedenheit bis hin zu seelischen Störungen. Gab es natürlich auch früher, werden einige sagen. Richtig, aber die Häufigkeit hat drastisch zugenommen. Es gehört eine gewisse Seelenstärke dazu, den Verlockungen des permanenten, um Aufmerksamkeit heischenden Informationsangebotes des Smartphones zu widerstehen. Das muss möglicherweise auch erlernt und trainiert werden, damit man nicht zum willenlosen, total manipulierten Subjekt degeneriert, einem Smartphone – Zombie sozusagen. Technischer Fortschritt lässt sich nicht aufhalten, soll er auch nicht. Wichtig für die Zukunft unserer Gesellschaft ist allerdings, dass die Benutzer moderner Kommunikationsmöglichkeiten wie Facebook, Twitter, Instagram, WhatsApp usw. ab einem Alter, ab dem sie hinreichend in der Lage sind, selbstbeherrscht zu leben und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, das auch tun. Dass sie lernen, sich bewusst nur mit einer Sache zu beschäftigen, dass sie wieder Freude an der Konzentration empfinden. Der Erfolg wird sich schnell einstellen, wenn man nicht ständig gesplittet lebt, zerrissen durch permanentes Multitasking. In diesem Sinne hoffe ich, dass viele junge Menschen, insbesondere Studenten diese kleine Anmerkung lesen und sich wieder mehr auf Kohärenz einlassen, mit ihrem Gesprächspartner, ihrem Lehrer oder eben auch mit dem anzueignenden Wissensstoff.