Ohne Stadt keine Reformation

dr-stefan-rheinZur Begriffsklärung vorweg: Reformation ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Mithin nichts, was aufhört. Wer die Reformation als beendet erklärt, befindet sich auf dem Irrweg. Soviel zur allgemeinen Beunruhigung. Ein Gespräch mit Dr. Stephan Rhein, Vorstand und Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.

Mit welcher neuen Erkenntnis können Sie im 500. Jahr der Reformation aufwarten? Dr. Stephan Rhein: Beginnen wir doch damit: Ohne Wittenberg keine Reformation! Die Reformation entwickelt sich in den Städten. Sie bedarf städtischer Strukturen. Es bedarf der kurzen Wege. Man muss schnell interagieren können. Rat und Kirche sind nahe beieinander. Der Beginn ist nicht zufällig hier in Wittenberg, sozusagen am Rande der Zivilisation, nicht in der Großstadt, aber in der Stadt.

Es bedarf bestimmter vorhandener Machtstrukturen, eines vorhandenen Machtvolumens? Ja. Aber es bedarf auch eines Machtvakuums, beispielsweise, dass geistliche Obrigkeiten weit entfernt residieren. Die Städte jedenfalls bieten den entlaufenen Mönchen die Möglichkeit, sich in einer bürgerlichen Existenz, beispielsweise als Handwerker, niederzulassen. Die städtischen Strukturen ermöglichen die Integration. Letztlich zeigt die Geschichte der Reformation in den Städten auch, wie schnell sich Kleriker verbürgerlichen.

Die Reformation ist mithin nicht nur ein Umbruch innerhalb der Kirche, sondern auch ein Aufbruch der verkarsteten gesellschaftlichen Strukturen. Vor der Reformation war die Sozialfürsorge eine ausschließlich kirchliche Angelegenheit. Mit der Auflösung der Klöster war das im bisherigen Umfang nicht mehr möglich. Es bedurfte neuer, nämlich der städtischen Strukturen, um fortan die Sozialfürsorge zu organisieren. Dazu führte man den „Gemeinen Kasten“ ein, aus dessen Einnahmen, die sich aus der Überführung von Kirchen- und Klosterbesitz in Gemeingut, aus Spenden und aus dem „Gottespfennig“, einer Marktsteuer generierten, die Sozialfürsorge für die Armen und Schwachen bestritten werden sollte. Verantwortlich für die gerechte Verteilung waren dann vier Abgeordnete der Bürgerschaft und der Bürgermeister. Das ist ein Beispiel dafür, dass die Reformation wesentlich auch ein soziales Ereignis, also von der Stadt her zu denken ist. Das ist ein ganz spannender Prozess, wie die Kommunen im Hören der neuen Botschaft sofort auch die sozialen Bereiche neu organisieren und kommunalisieren.

Auf Wittenberg folgte Zerbst, das sich als zweite Stadt in Deutschland zur Reformation bekannte, und sie war eine wirtschaftlich starke Stadt. Ja, das war ein sehr frühes Bekenntnis einer wichtigen Stadt. Wittenberg hatte damals ja gerade mal 390 Häuser. Das ist überschaubar. Hinzu kamen freilich noch die Kleriker und die Universitätsangehörigen, die nicht zur Einwohnerschaft gezählt wurden. Aber was sich da bereits andeutet: Die Reformation ist ein Laufband von Stadt zu Stadt.

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Dr. Stefan Rhein, Vorstand und Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.

Das bedeutete aber doch auch, dass die Reformation in starkem Maße eine politische, eine demokratische Veranstaltung ist … Was faszinierte, ist das Priestertum aller Gläubigen. Das ist das entscheidende Narrativ der Reformation. Das bedeutet ja eine Enthierarchisierung: Wo vorher Geweihte die Wahrheit gepachtet hatten, wird nun die Wahrheit demokratisch ausgehandelt. Das einflussreiche Neue ist, dass mit der Reformation Laien teilhaben. Im evangelischen Gottesdienst wird nicht mehr Latein, sondern Deutsch gesprochen. Plötzlich ist die Lehre verstehbar, damit aber auch Zustimmung oder Einspruch ausgesetzt. Die Liturgie ist nicht mehr nur eine Angelegenheit zwischen Priester und Chor: Die ganze Gemeinde singt die in Deutsch gehaltenen Lieder mit. Das war eine Demokratisierung der Teilhabe am Gottesdienst. Jeder darf mitsingen! Folgerichtig bedurfte es der Bildung, um die Menschen in diese Teilhabe einbeziehen zu können. Aus diesem Gedanken der Teilhabe entwickelte sich die Idee, dass es einer Schulbildung bedarf, um qualifiziert teilnehmen zu können am gesellschaftlichen Diskurs. Wem sollte die Bildung gelten? Eben nicht nur den Eliten und, ein völlig neuer Gedanke, nicht nur den Männern, sondern Bildung für alle schloss die Bildung der Mädchen mit ein. Die Reformation ist also auch ein Akt der Befreiung. Der Akt der Befreiung enthält die Verpflichtung zur Bildung. Die Pflicht des Befreiten aber besteht darin, dass er Verantwortung zu übernehmen hat. Ganz praktisch sehen wir das wiederum in dem Akt, in welchem Sozialfürsorge kommunalisiert wird. Für die Reformation gilt: Du bist nicht nur befreit, du hast auch Verantwortung zu übernehmen.

Das ist sechsundzwanzig Jahre nach der Selbstbefreiung von 1989 ein immer noch virulentes Thema, oder? Die Reformation geht weiter. Man darf nicht nur den Akt der Befreiung sehen. Es steht mit der Befreiung sofort die Frage, welcherart der Akt der Verantwortung ist, die ich dann zu übernehmen habe. Das war auch damals schon ein Problem. Aber Sie haben recht, das ist auch heute unser Problem. Das scheint mir ganz wichtig zu sein, dass die allgemeine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eine Reihe von Verpflichtungen dem einzelnen Befreiten auch auferlegt.

Es gärte ja bereits vor der Reformation. Es gab Kritik am Klerus. Man denke nur an die „stinkenden Böcke“, mit denen Mechthild von Magdeburg die Domherren titulierte. Es gab handfeste Auseinandersetzungen zwischen der klerikalen Oberschicht und dem aufstrebenden Bürgertum. Hatte man jetzt, mit der Reformation, den ideologischen Überbau für die neue, die frühkapitalistische Gesellschaft? In der Tat, der Antiklerikalismus ist bereits ein spätmittelalterliches Phänomen. Auch die Kritik am Ablass ist vorreformatorisch. Jetzt gibt es den Überbau dazu, der die einzelnen Bewegungen, Stimmungen und Befindlichkeiten bündelt. Die Reformation bietet den ideologischen Rahmen für diese Bewegung. Das Faszinierende ist ja tatsächlich, dass Luther aus diesem gesellschaftlichem Gebäude so etwas wie einen Nagel herauszieht. Ich muss mein Heil nicht erkaufen. Ich muss nicht pilgern. Ich bin allein gerechtfertigt durch den Glauben. Diese Teilhabe ist eine wichtige Etappe der Demokratiebildung. Sie macht den Menschen mündig. In der Folge dessen, dass der mündige Mensch Verantwortung übernimmt, bedeutet die Reformation eben auch die erste Etappe zum Sozialstaat.

Wenn wir künftig auf den Autobahnschildern mit „Ursprungsland der Reformation“ grüßen, laden wir zum Rückblick ein. Wenn man politisch gesehen über Reformen spricht, geht es meist ans Eingemachte, also um Ab- statt Weiterbau. Insofern hat der Begriff „Reformen“ keine positive Konnotation. Was gibt die Reformation uns mit auf den Weg? Da sind Sie beim Thema: Wieviel Moderne laden wir Luther auf? Wir sind mittendrin in einer spannenden Diskussion zum Thema. Wir haben manche Kritik dafür erhalten, dass wir beispielsweise in Eisleben für moderne Anbauten an historische Gebäude optiert haben. Aber das ist ein Signal: Unser Lutherbild ist ja immer noch durch das des 19. Jahrhunderts geprägt. Der deutsche Luther, die Bilder vom Familienvater Luther, der Held, der Deutschland rettet. Luther hat sich aber nicht erledigt. Schon gar nicht in diesen Bildern. Die Botschaft trägt weiter. Sie reicht vom 16. bis ins 21. Jahrhundert.

Wobei ich freilich den Eindruck habe, dass man sich im Vorfeld des Reformationsjubiläums an den Absonderlichkeiten des Reformators zu Lebenszeiten abarbeitet, also mit einem gewissen Triumphalismus in der Stimme verkündet, dass der Reformator nun endgültig als Antisemit, als Weiberheld, als Islamhasser enttarnt wurde. Reformation war gut, Luther leider eine Art bad guy. Wie steht er zu den Türken, wie zu den Frauen, das alles geradezu überwölbt von der Judenfrage. Es gibt ja gerade wieder eine große Debatte, ob man die „Judensau“ an der Stadtkirche abnehmen soll. Die FAZ vom 24.8.2016 schreibt, dass „mit Hinweis auf das nahende Reformationsjubiläum“ der Londoner Theologe Richard Harvey die Entfernung des Reliefs forderte, „weil es ‚bis heute ein Angriff auf Juden’ sei.“

Was heißt: Bau die Vergangenheit weg, wenn sie stört. Ende des 13. Jahrhunderts wurde das Relief ganz oben an der Stadtkirche angebracht. Luther hat einmal darauf Bezug genommen. Es ist eine Wunde, zweifelsohne. Als Wunde ist die „Judensau“ seit dem 13. Jahrhundert da. Jetzt zu sagen, wir entsorgen die Geschichte, das wäre zu einfach. Die Kirchgemeinde hat 1988 dem Künstler Wieland Schmiedel den Auftrag erteilt, seine Antwort auf diese Wunde zu geben. Die in den Boden unterhalb der „Judensau“ eingelassene Gedenktafel für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus ist ein eindrucksvolles Statement. Bild und Gegenbild ergeben jetzt das Gesamtbild in der Geschichte. Die Magdeburger Jüdische Gemeinde war 1988 bei der Einweihung dieses Erinnerungswerkes dabei. Schmiedels Arbeit stellt einen christlich-jüdischen Konsens dar. Man kann also auch in einer anderen, konstruktiven Art mit dieser Wunde umgehen. Ich habe auf meinem Schreibtisch eine Reihe Bitten um Stellungnahme zu diesem Ärgernis. Ich antworte darauf, dass ich mich nicht zuletzt solcher Anfragen wegen immer wieder mit der „Judensau“ beschäftige. Und dass ich glücklich bin, in einer Stadt leben zu dürfen, die auf die Wunde hin eine künstlerische Antwort zu geben in der Lage war. Das hat Köln nicht fertiggebracht, andere Städte auch nicht. Aber Wittenberg, die Lutherstadt. Das macht mich in der Tat glücklich.

Noch mal: Reformation. Luther. Die Reformation ist ein Prozess, also nicht beendbar. Wohin will sie, will Luther mich denn heute auf den Weg bringen? Die Provokationen, von denen wir sprachen, also Judenfeind oder Islamhasser lassen sich viel leichter anheften und ihn abstempeln. Das ist eine Art der Entsorgung der eigenen Beschäftigung mit ihm, mit seiner Botschaft. Andererseits kommt gegenwärtig fast jede Woche eine Luther-Biografie heraus. 2017 wird es über 180 Luther-Ausstellungen in Deutschland geben. Das ist beeindruckend, fast einschüchternd. Auf uns Wittenberger kommen zu: der Kirchentag, Weltausstellung, Sonderausstellungen, Jugendcamps, Begleitveranstaltungen. Und gleichzeitig finden spannende Debatten statt, die an Luther und die Reformation anknüpfen: allgemeine Teilhabe an Bildung, Religionsfreiheit und Menschenrechte, Sozialstaat und Bürgerengagement etc. Gehen wir noch mal in die Geschichte: Reformation ist für die Stadtentwicklung Wittenbergs eminent wichtig gewesen. Nach 1520 ist hier ein richtiger Bauboom zu verzeichnen. Die Universität erhält eine europäische Bedeutung, wächst dadurch stark. Es kommen neue Dozenten, die bauen wollen. Bürgerhäuser werden aufgestockt, weil man mehr Wohnungen für Studenten benötigt. Reformation ist also auch ein ernst zu nehmender Wirtschaftsfaktor. Der Buchdruck explodiert geradezu, sowohl in Wittenberg als auch in Magdeburg. Magdeburg war ja in hohem Maße eine Buchdruckerstadt in der Zeit nach der Reformation. Im Vorfeld des Jubiläums kann man das für Wittenberg ebenfalls wieder feststellen: Der Bahnhof wird neu, die Kirchensanierungen. Wo man entdeckt, dass die Reformation noch nicht an ihrem Ende ist, wird sie auch wieder zum Wirtschaftsfaktor.

Sie ist also nicht zu Ende? Sie wissen doch: Ecclesia semper reformanda. Die Kirche ist immer reformbedürftig, die Welt im Übrigen auch. Sie kommt also nie zu ihrem Ende.

Möglicherweise beginnt mit Papst Franciscus ja eine neue Ära, weil nun aus der Reformation ein Wettlauf beider Kirchen in der Welt wird? Man gewinnt ja zunehmend den Eindruck, dass ein Aufbruch notwendig wäre. Der Aufbruch in eine Freiheit, die sichtbar werden lässt, dass es ohne die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung nicht geht. Navid Kermani sagte es einmal sehr treffen, dass es ungemütlicher werden wird in Deutschland. Darauf sollten wir uns einrichten anstatt in Ohnmacht nach hinten zu starren, wie schön es in der Volksgemeinschaft gewesen sei, oder im christlichen Abendland. Das Gespräch führte Ludwig Schumann.