Die geächtete Wissenschaft

15476684 - gmo corn disguised as organic corn150 Jahre Mendelsche Genetik  |  Von Prof. Dr. Reinhard Szibor

Vor kurzem wurde eine von mir sehr geschätzte Kollegin im Land NRW an der Schule ihrer Tochter Elternvertreterin. In einer Vorstellungsrunde nach der Wahl erwähnte sie, dass sie an der Uni als Molekulargenetikerin arbeitet. Großes Entsetzen! Eine Molekulargenetikerin als Elternvertreterin – das geht gar nicht! Einige Eltern strebten eine Annullierung der Wahl an, was allerdings scheiterte. Diese Episode zeigt, dass die Genetik und mit ihr die Menschen, die sie betreiben, einen schlechten Stand haben. Auf die Frage, warum das so ist, kommen wir später zurück. Zunächst wollen wir uns des Anfangs der Genetik erinnern und einige wichtige Stationen der Entwicklung skizzieren. Ein Anlass für einen Rückblick ist gegeben: Im Jahre 1866, also vor 150 Jahren, publizierte Gregor Mendel seine „Versuche über Pflanzenhybriden“. Obwohl das Wort „Genetik“ erst 1906 durch William Bateson geprägt wurde, kann man den Zeitpunkt der ersten Publikation Mendels als das Geburtsjahr eben dieser Wissenschaft bezeichnen. Der Augustinermönch Mendel aus Brünn war ein genialer Forscher und offenbar ein sympathischer Mensch. Als er mit 62 Jahren starb, versammelte sich eine große Trauer-gemeinde, darunter viele arme Bauern, die ihn als Wohltäter verehrten. Zu würdigen, dass er ein einzigartiger Wissenschaftler war, kam den Trauernden nicht in den Sinn. Sie wussten es überhaupt nicht! Seine Studien wurden zu seinen Lebzeiten nicht beachtet und erst 27 Jahre nach seinem Tode wiederentdeckt. Im Augustinerstift in Brünn stellte man bald nach Mendels Priesterweihe fest, dass er für die Seelsorge kaum zu gebrauchen war. Er arbeitete deshalb als Lehrer und studierte in Wien Physik, Zoologie, Botanik und Chemie. Mendel führte ab 1856 seine Kreuzungsexperimente u. a. mit sorgfältig ausgewählten Sorten der Erbse. Er betrachtete Merkmale, die klar zu unterscheiden waren: Violett- oder weißblühende Sorten, solche mit gelben oder grünen Samen, andere mit runden oder schrumpeligen Früchten usw. Aus 355 künstlichen Befruchtungen zog er 12.980 Hybriden und gewann so Erkenntnisse über die Aufspaltung der Merkmale und deren Regeln. Mendel erkannte, dass sich bei der Vererbung der Eigenschaften diese nicht mischen wie Milch und Himbeersaft. Vielmehr sind die Merkmale an Strukturen gebunden, die als solche über Generationen erhalten bleiben.

Gregor Mendel.

Gregor Mendel.

Er nannte diese „teilchenartige Elemente“. Sie werden heute als Gene bezeichnet. Es würde zu weit führen, hier alle wichtigen Etappen der Genetik zu skizzieren, aber natürlich muss die Aufklärung der DNA-Struktur als Meilenstein genannt werden. James Watson und Francis Crick haben 1953 mit der Methode des wissenschaftlichen Modellbaus demonstriert, wie die DNA aufgebaut ist. Danach stellt sich die DNA als Doppelhelix aus zwei umeinander gewundenen fadenartigen Riesenmolekülen dar, die jeweils eine Aneinanderreihung von komplexen Molekülen (Nukleinbasen) sind. Wir bezeichnen diese mit den Symbolen A, G, C und T. Die Informationen für den Aufbau und die Funktionen der Lebewesen ergeben sich aus der „Buchstabenreihung“ in der DNA (oder wissenschaftlich ausgedrückt- aus der Sequenz der Nukleinbasen). In den 60er und 70er Jahren hat man dann die „Schrift des Lebens“ entschlüsselt, gelernt wie Gene aufgebaut sind und wie diese in ihrer Funktion reguliert werden. In den 80er Jahren entwickelte man Methoden, mit denen man die Buchstabenfolge „lesen“ (sequenzieren) konnte. In der Zeit von 1990-2003 wurde im Rahmen des Human-Genom-Projekts (HUGO) das menschliche Genom, das etwa 3.2 Milliarden Nukleinbasen umfasst, sequenziert. Zwanzig Forschungszentren haben im Rahmen von 6 nationalen Human-Genom-Projekten maßgeblich dazu beigetragen. Insgesamt wurden im Genom des Menschen über 20.000 Gene identifiziert, von denen in der Folgezeit eine Vielzahl gut charakterisiert wurde. Inzwischen gibt es völlig neue Sequenzierungsmethoden. Von den vielen konkurrierenden Lösungen sei hier nur die Nanoporensequenzierung genannt. Dabei werden DNA-Einzelstränge mit der Kraft eines elektrischen Feldes durch Nanoporen einer ultradünnen Membran geschleust, wobei sich in Abhängigkeit von den jeweils passierenden Nukleinbasen eine Reihung von elektrischen Signalen ergibt. Diese bilden die Sequenz der zu analysierenden DNA ab. Wenige tausend Poren eines Chips genügen, um Millionen Basen in kürzester Zeit zu sequenzieren. Das Gesamtergebnis ergibt sich aus dem Zusammenfügen von Einzelergebnissen, die jeweils einige tausend Bausteine betreffen. Das bewältigt eine aufwändige Rechentechnik. In der einfachsten technischen Lösung wird die Analyseeinheit, die nur noch die Größe eines USB-Sticks besitzt, an ein geeignetes Smartphone angeschlossen, um die Daten an einen Zentralcomputer zu senden. Betrugen die Kosten der Sequenzierung eines Prototyps menschlicher DNA im HUGO-Projekt, das mehre Jahre dauerte, noch 1 Dollar pro Baustein (also ca. 3 Milliarden Dollar), kann heute jedermann die Sequenzierung seiner eigenen DNA für ca. tausend Dollar bei einem Dienstleister in Auftrag geben. Die eigentliche Analyse dauert nur noch einen Tag. Eine realistische Vision ist, dass dies in absehbarer Zeit massenhaft passieren wird, denn es steht die Einführung einer personalisierten Medizin auf der Agenda. Diese würde die genetische Individualität jedes Einzelnen berücksichtigen und im Krankheitsfalle jedem eine maßgeschneiderte Behandlung ermöglichen. Ist mit der Sequenzierung des gesamten menschlichen Genoms nun alles über die Menschheit im Allgemeinen bzw. über ein Individuum im Besonderen offenbart? Keineswegs! Bisher verstehen wir nur die relativ einfachen Beziehungen zwischen dem Genom und den körperlichen Merkmalen. Beispielsweise ist die Zusammensetzung eines Eiweißes, das als Blutgerinnungsfaktor fungiert, schon aus der DNA-Sequenz abzulesen. Gibt es hier Fehler, kann die Blutgerinnung gestört sein und der Patient hat eine Neigung zu unstillbaren Blutungen. In vielen anderen Krankheitsfällen, in denen Eiweiße nicht funktionieren, ist das ähnlich. Auch ist in vergleichbarer Weise ein großes Spektrum von Ursachen für Krebsursachen erkannt worden. Die molekulargenetische Charakterisierung von Tumoren gilt in vielen Fällen die Eintrittskarte für einen erfolgreichen Therapieprozess. Aber so atemberaubend die Fortschritte auf der einen Seite sind, so rätselhaft und unverstanden sind bis heute große Bereiche der Genetik. Wie sollen wir uns die Funktion von Genen vorstellen, die das Verhalten steuern? Die vielen Vogelarten singen alle ihre Lieder höchst unterschiedlich. Gänse und Kraniche fliegen in pfeilartigen Formationen, aber Stare tun dies als riesige Schwärme. Alle Vögel bauen ihre Nester auf unterschiedlichste Art. Die meisten vollbringen wahre Kunstwerke. Auch die Vielgestaltigkeit von Spinnennetzen fasziniert uns. Selbst wenn Hühner nie eigene Erfahrung mit Greifvögeln gemacht haben, „wissen“ sie, dass sie sich verstecken müssen, sobald die Silhouette eines Milans am Himmel auftaucht. All diese Verhaltensweisen müssen nicht erlernt werden, sie werden durch Gene gesteuert, von denen wir nicht wissen, wie sie funktionieren. Löwen leben in kleinen Rudeln, aber der Luchs ist Einzelgänger. Man sieht, auch die gesellschaftlichen Strukturen jeder Tiersozietät sind genetisch vorgegeben. Das ist übrigens selbst beim Menschen so, auch wenn er die Option zu einer freien Willensentscheidung hat. Letztere hält sich aber in Grenzen, weil sich unsere in Jahrmillionen herausgebildeten genetischen Dispositionen nicht einfach abschalten lassen. Marx, Lenin, Mao Zedong und all die anderen Revolutionäre sind daran gescheitert, dass sie über die Natur des Menschen nichts wissen konnten und ihre Visionen deshalb illusionär waren. Ebenso geht es den Politikern in den gegenwärtigen Gesellschaften. Allerdings könnten diese über die menschliche Konstitution mehr wissen, aber es gilt für sie als Tabu, sich darüber Gedanken zu machen, dass auch das Wesen und das Verhalten von Menschen genetisch mitbestimmt sind. So legten sie beispielsweise einfach fest, 2 Mal im Jahr die Uhr um eine Stunde zu verstellen. Aber nahezu alle Lebewesen, auch der Mensch, haben eine genetisch determinierte „innere Uhr“, also einen biologischen Tag-Nacht-Rhythmus. Der ist mit dem Hell-Dunkel-Wechsel in Harmonie, nicht unbedingt aber mit den Beschlüssen des EU-Parlaments. Die Herzinfarktrate steigt in den Tagen unmittelbar nach der Zeitumstellung messbar an. Noch krassere Folgen hat die Leugnung der Genetik auf dem Feld der Genderpolitik. Eine uns regierende Glaubensgemeinschaft ist davon überzeugt, dass es außer ein paar anatomischen Kleinigkeiten zwischen den Geschlechtern keine Unterschiede gäbe, und wo solche doch auftreten, seien diese auf die Bedienung von Rollenklischees (also auf Erziehungsfehler) zurückzuführen. Aber die genetische Determination der Menschen geht weit über die Festlegung der primären Geschlechtsmerkmale hinaus und prägt die gesamte Persönlichkeit. Genetiker und Neurowissenschaftler haben dazu jede Menge Daten, die aber interessieren nicht. Von daher ist nicht erstaunlich, dass Genetiker unbeliebt sind, stören sie doch mit ihrer lästigen Naturwissenschaft die Pippi-Langstrumpf-Mentalität weiter Teile der Bevölkerung („Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“) Wer die Geschichte der Genetik reflektiert, darf die Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus nicht unerwähnt lassen. Meist als Erbbiologen bezeichnet, waren Genetiker bei den Nazis beliebt. Leider haben sie sich in der Mehrheit für deren unmenschliche Ziele einspannen lassen. Der Diffamierung sogenannter „nichtarischer Rassen“ lieferten sie pseudowissenschaftliche Argumente, die die schrecklichen Verbrechen unterstützen. Auch Euthanasie, also die massenhafte Ermordung bzw. Sterilisierung von Behinderten, haben sie mit zu verantworten. Die Unmenschlichkeit des NS-Regimes wird seitdem eben leider auch mit der Genetik in Zusammenhang gebracht. Gegenwind aus dem Lager der Wissenschaftler gab es nur wenig, aber immerhin weigerte sich die Berliner Professorin Paula Hertwig, eine Mitbegründerin der Strahlengenetik, Vorlesungen zu Rassenkunde zu

15476684 - gmo corn disguised as organic cornhalten. Elisabeth Schiemann, eine weitere Professorin in Berlin, ist gar zur Widerstandskämpferin geworden. Die Genetik der Nazis hatte mit seriöser Wissenschaft nichts zu tun! Wo genetische Forschung ernsthaft betrieben wird, stehen deren Erkenntnisse fast immer im Widerspruch zu den Lehren von Ideologen. So war es auch in der UdSSR und deren Satellitenstaaten. Dort hatte sich unter der Leitung des Wissenschaftsscharlatans Trofim Denissowitsch Lyssenko eine Gruppe zusammen getan, die einen Feldzug gegen die sogenannte „bourgeoise Genetik“ eingeleitet hat. Sie bekämpfte und liquidierte jene Biologen, die sich mit dieser Disziplin befassten. Das zentrale Postulat des Lyssenkoismus lautete, dass die Eigenschaften von Organismen nicht durch Gene, sondern durch Umweltbedingungen bestimmt werden. Lyssenko wurde von Stalin zu seinem persönlichen Landwirtschaftsberater ernannt – eine Position, die er dafür nutzte, Biologen als „Fliegen-Liebhaber und Menschenhasser“ zu denunzieren. Führende Genetiker wurden in Gulags und Gefängnisse gesperrt und kamen dort um. Die von Lyssenko in der Landwirtschaft eingeführten Neuerungen führten zu Hungersnöten, die Tausende mit dem Leben bezahlten. Der Lyssenkoismus herrschte in der Sowjetunion bis in die 60er Jahre. In der DDR gelang es mutigen Genetikern um Hans Stubbe und Paula Hertwig, den Wahnsinn schon etwas eher zu beenden. Zu der Zeit, als hier der Lyssenkoismus überwunden wurde, blühte er in der Bundesrepublik auf. Die linksextremistische Frauengruppe „Rote Zora“ verübte in den 70er Jahren Sprengstoffanschläge auf genetische Institute. Die Begriffe „Gen“ und „Genetik“ wurden nun auch in der Mitte der Gesellschaft negativ besetzt. Der Lyssenkoismus hat sich inzwischen in einer modernisierten Erscheinungsform voll etabliert. Seine Wirkung in der Genderpolitik wurde schon oben angesprochen. Als Thilo Sarrazin das unwiderlegbare Faktum thematisierte, dass die Intelligenz zu einem erheblichen Anteil genetisch determiniert sei, löste das einen Sturm der Entrüstung aus. Die These, dass Intelligenz genetisch bedingt ist, sei „eine zutiefst rassistische Argumentation“, formulierte unser Vizekanzler Sigmar Gabriel unisono mit anderen namhaften SPD-, Grünen- und Linkenpolitikern. Auch die Mehrheit der Presse ist auf seiner Seite. Bedenkt man, dass Gabriel eine Ausbildung zum Lehrer hat, verwundert der deutsche Bildungsnotstand in Sachen Biologie kaum. 150 Jahre nach der Geburt der Genetik zeigen Deutschland und Europa in Bezug auf diese Wissenschaft eine tiefe Zerrissenheit. Während an unseren Forschungseinrichtungen Spitzenleistungen erbracht werden und einer der nächsten Nobelpreise an die Genetikerin Emmanuelle Charpentier nach Berlin gehen wird, hören wir von unseren Politkern realitätsferne Statements, und viele Menschen fordern „genfreie“ Lebensmittel. Zigtausende wütende Bürger gehen auf die Straße, um gegen vermeintlichen „Genscheiß“ zu protestieren, und das, weil Genetiker Pflanzen kreiert haben, die sich selbst gegen Schädlinge wehren können und keine Behandlung mit Pestiziden brauchen! Unter diesem Aspekt muss man froh sein, dass Europa sich von den CETA- und TTIP- Abkommen verabschiedet. Somit können die zukunftsorientierten Nationen USA und Kanada gemeinsam mit China und anderen asiatischen Völkern die künftig für die ganze Welt geltenden biotechnologischen Standards festlegen, ohne dabei vom rot-grün gestreiften Biedermeier Europas gestört zu werden.


sziborDer Autor

Prof. Dr. Reinhard Szibor ist gelernter Gärtner, später studierte er Biologie an der FSU Jena. Molekulare Genetik lernte Szibor am Max-Delbrück-Zentrum in Berlin-Buch. An der OvGU arbeitete er wissenschaftlich auf dem Gebiet der Molekularen Abstammungsgenetik. Er ist Mitglied im Kollegium emeritierter Professoren und gehört dem Forum Grüne Vernunft an.