Die Gräben, die wir schachten …

graebenGräben verlaufen durch Deutschland, vor allem Klüfte aus Meinungsstreit. Die eigentlichen Risse sind jedoch tieferer Natur. Sie ziehen durch Herz, Verstand und Seele. Von Thomas Wischnewski

Ich sehe ein Land, das von tiefen Gräben zerklüftet ist. Es sind nicht solche, deren Verlauf ich einfach von rechts nach links oder nach der Himmelsrichtung beschreiben könnte. Es sind auch keine, die schlicht nur oben und unten trennen würden oder arm und reich. Ich sehe ein Deutschland mit geteilten Landschaften, eines das von Furchen durchzogen wird, über die sich offenbar seltener Brücken spannen. Mir liegt daran, die Gründe dieser unwirklichen Schluchten zu verstehen. Aber die Suche nach einem Anfang, nach einer alles erklärenden Ursache, erscheint mir enorm kompliziert, weil ich in Abgründe blicke, die nicht mit den Augen zu sehen sind. Sie liegen nicht vor den Füßen. Die Klüfte, die das Land durchziehen, schneiden sich durch Herz, Verstand und Seele. Und ich gewinne den Eindruck, dass jeder irgendwie seinen Spatenstich leistet und an den Gräben mitschachtet.

Den 5. September 2015 kann ich als eine Zäsur begreifen. An diesem Tag sagt die Bundeskanzlerin den Satz „Wir schaffen das“. Deutschland erlebt zwei große Botschaften: Willkommen ruft es millionenfach Menschen entgegen, die einen Marsch der Entbehrung und des Fliehens aus der Not hinter sich gebracht hatten. Invasion rufen Tausend andere. Plötzlich scheint sich zu erfüllen, was selbst ernannte Patrioten in Dresden längst seit einem Dreivierteljahr prophezeien. Zwischen die Meinungen geht ein tiefer Riss. Jedes Ereignis, das folgt, schreibt sich jeweils die Seite als Gutschrift aufs Argumentationskonto, die glaubt, damit das eigene Verständnis zu bereichern. Auf der Welle derer, die vor Gefahren einer ungebremsten Einwanderung mahnen, schäumt eine neue politische Kraft. Längst hat sie den ruhenden, alten Fels zerklüftet. Die gesellschaftliche und politische Landschaft ist brüchig geworden. Mahner und Beschwichtiger schaufeln gleichermaßen am Graben, der sich zwischen ihnen auftut. Ich beobachte, mit welchen Mühen manche versuchen, Brüche zu schließen. Doch die Ingenieurskunst versagt. Ohnmacht und Hilflosigkeit ziehen einen weiteren Graben. Ich glaube, man sieht nicht in die Untiefen, die tiefer, unter den Gräben für Aushöhlungen sorgen. Wenn eine Oberfläche Wunden zeigt, können äußere Kräfte daran genagt haben, doch manchmal haben eher langwierige innere Prozesse die Festigkeit einer Kruste zerlegt.

Der Medienspiegel über rechte Gewalt und die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden suggeriert mir, dass der Osten ein Problemgebiet ist. Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalttaten, nur Verurteilungen. Doch was sollen mir Zurechtweisungen aus höheren bürgerlichen Intellektetagen erklären, wenn dort genauso verallgemeinert wird, wie mancher Flüchtlinge über einen Kamm schert? Kürzlich erzählte mir ein italienischer Freund, wie er vor über 40 Jahren den Alltag in Braunschweig erlebte. Einer seiner Landsleute hatte irgendwo randaliert und alle seines Schlages galten als „Messerstecher-Itacker“. Ich würde unter der Linie, die zwischen Ost und West gezogen wird andere Wirkmechanismen sehen: Wir sind in der Zeitrechnung eine Generation nach der Deutschen Einheit, aber wir haben offenbar noch nicht den Riss überwunden, der sich 1990 unter die Einheit eingegraben hatte. Ich weiß es nicht besser, aber ich glaube, dass in den fünf ostdeutschen Bundesländern noch immer ein Gefühl einer gewissen Entwertung nachschwingt. Viele Menschen haben eben im Einigungsprozess eine Auslöschung ihrer Lebensleistung erfahren. Das Postulat, in einer repressiven Gesellschaft gelebt und sich in dieser eingebracht zu haben, hallte zu lange nach, dass Menschen für ihr persönliches Engagement auf falschen Wege gewandelt waren. Diese bis heute andauernde historische Bewertung – die natürlich auch ihre Berechtigung besitzt – hinterließ jedoch ein emotionales Verletzungspotenzial. Erst schlägt Ostdeutschen wegen ihres Wahlverhaltens in westdeutsche Analysen entgegen, dass sie zu links stimmen würden. Jetzt verkehrt sich der Vorwurf ins Gegenteil, dass sie rechtslastigen Parteien zur Mitbestimmung verhelfen würden. Es mag sein, dass eine oft geäußerte Abgrenzung in Altländern zu Ostdeutschen vergisst, dass 26 Jahre Deutsche Einheit nicht mit den denselben Verwurzelungen westdeutscher bürgerlicher Biografien gleichzusetzen ist.

Verallgemeinerung besitzt ein extrem destruktives Potenzial. Sie wirkt nicht wie ein Spaten, mit dem man einen Graben aushebt, sondern wie ein Bagger mit Riesenschaufel. Vor 20 Jahren zeigte man maximal heimlich mit dem Finger auf solche, die einem andersartig, fremd oder unnormal erschienen. Heute weisen Finger millionenfach aus sozialen Netzwerken in die eine oder andere Richtung und ganz konkret auf Menschen, mit deren Meinung man nicht übereinstimmt. Die Aufregung über empörendes Verhalten war mal eine sehr private Sache, damals als das Leben noch analog funktionierte. Heute erscheint mir die Erregung wie eine kollektive Keule. Und ich frage mich, ob der virtuelle Adrenalinausstoß jemals wieder den Grenzwert angemessener Normwerten unterschreiten kann?

Manchmal scheint es mir so, als hätten wir einen tiefen Graben zwischen Natur und Kultur geschaufelt. Aber wir pochen auf die kulturellen Errungenschaften einer modernen Gesellschaft wie auf die Naturgesetze des Universums. Mir ist als verläuft ein tiefer Graben zwischen unseren Wohnzimmern, den vermeintlich schützenden Rückzugsarealen, in denen sich fiebernd ein Einsamkeitspotenzial erhitzt. Wir haben uns gut verschanzt und eingerichtet, vor allem im Trend einer wachsenden Versingelung. In den meisten deutschen Großstädten werden bereits mehr als 50 Prozent der Haushalte von Einzelpersonen bewohnt. Ich möchte nicht glauben, dass die Zeiten zunehmen, in der solche Alleinsein-Menschen auf Bildschirme starren und unter den Scheiben derselben ihre Gemeinschaft suchen oder vielleicht gar Gefühle. Ich suche nach der Möglichkeit, eine Brücke über diesen sich öffnenden Graben zu schlagen, spüre aber den Gegenwind der fortwährenden Prophezeiung, dass die Zukunft digital sei. Zukunft ist nur ausschließlich in Menschen, niemals in Bits und Bytes. Digital hat überhaupt nichts mit dem Wort Zukunft gemein, sondern eher mit Begriffen, solchen wie Mittel und Methoden. Menschen sind Zukunft.

graebenEs ist mir, als würden wir an einem Graben zwischen Wirklichkeit und Scheinwelt schachten. Der sich jedoch nur deshalb vertiefte, weil wir einzig der Wirklichkeit die angemessene Aufmerksamkeit verweigern. Da öffnet sich eine Kluft zwischen unserer sozialen Natur und einer virtuellen Heuchelei. Anstatt die Sehnsucht nach Verbindung und Emotionen in die Welt hinauszutragen, flüchten Menschen in Heerscharen in die Illusionen von Bildern und Worten, die weder eine Hand halten, noch einen Arm um eine Schulter legen oder gar küssen und liebkosen. Zwischen einem Glauben an Wahrheit und Tatsachen schachtet sich ein tiefer Graben. Es nährt sich der Glaube aus Leichtgläubigkeit und der Unterstellung von Oben belogen zu werden. Kürzlich verbreitete ein befreundeter Unternehmer einen Brief bei Facebook, der einen Vertrag zwischen einem Opfer und einem städtischen Klinikum zeigen sollte. Im Kontrakt wurde von einer Frau verlangt, über die Ereignisse der Kölner Silvesternacht zu schweigen. Die Klinik sollte im Namen der nordrhein-westfälischen Landesregierung handeln. Jeder einigermaßen juristisch bewanderte Mensch, wüsste sofort, dass so ein Schreiben der reinste Kokolores ist. Aber solche Wahrheiten ziehen wie Nebel über Gräben mit stinkendem Morast. Wahrheit ist immer die Mode der Mehrheit. Und wenn ausreichend viele auf der einen Seite schreien, werden die Argumente der anderen nicht mehr gehört. Wenn ich an die Warnungen eines Thilo Sarrazins denke, der schon 2010 Deutschlands Abschaffung aus der Geburtenentwicklung türkischer Migranten herleitete und ich nun häufiger Bilder verschleierter Musliminnen sehe, die stolz ihre Kinderschar durch die Straße führen, neige ich dazu, im Innern mancher deutschen Seele einen gewissen Neid zu vermuten. Vielleicht schaut man auf das eigene Einzelkind und wünschte sich insgeheim, mehr Nachwuchs. Geld kann in unserem modernen Verständnis alles bewirken. Aber Kinder gibt’s nicht bei Amazon oder im Supermarkt um die Ecke. Es stimmt sich bei uns gern das gute Klagelied an, dass der Staat zu wenig für Familien täte. Mehr Geld hier, mehr Entlastung da – es würde sich schon richten. Gern fragte ich die Familien und Frauen vor 100 Jahren, mit welcher staatlichen Unterstützungen sie ihre Mäuler sattgemacht haben. Vermutlich wäre die Antwort ein missverständliches Staunen. Müssten wir nicht vielmehr bekennen, dass Wurzeln einer veränderten gesellschaftlichen Reproduktion in unserer Lebensweise stecken, die wir überall und gegen jeden verteidigen wollen? Nur wenn jemand die Reproduktion anderer Nationen herausstellt, muss die eigene Kultur auf den Prüfstand und nicht die Natur der anderen. Alles andere ist das Schachten eines tiefen Grabens, der die eigentlichen Verwerfungen überdeckt.

Ich sehe ebenso auf die Seite politischer Beteuerungen, die gern positive Fakten einer Entwicklung in den Vordergrund rücken möchten. Natürlich gibt es Kennziffern, die dokumentieren, dass auf manchem Gebiet Fortschritte sichtbar werden. Doch wer ein Gewicht in die Waagschale legt, findet einen, der ein Gegengewicht auflegt. Müssen wir uns nicht vielmehr fragen, inwiefern wir das Leben mathematisieren? Jede Bewegung, jeder Wert, letztlich jedes Individuum muss sich in Zahlen aufwiegen lassen. Bin ich nur noch daran zu messen, für wie viel Geld ich mich verkaufen kann oder welche geldwerten Äquivalente ich vorzuweisen habe? Das Leben ist Mathematik geworden. Wie viel Flüchtlinge? Wie viel Gefahrenpotenzial? Wie viel Bruttosozialprodukt? Wie viel hat einer mehr oder weniger und was steht ihm überhaupt zu? Bemerken wir nicht, dass wir in der Annahme existieren, dass sich alles und jeder messen lassen muss – insbesondere daran, was er zahlenmäßig an Geld vorweisen könnte bzw. erhielte – und dass wir damit einen tiefen Graben zwischen Menschen schachten, mit Spaten aus Ziffern und menschliche Werte ersticken unter der Abraumhalde, aus dem Aushub der Gräben. Politiker legen internationale Messlatten an die Geschehnisse in anderen Staaten an. Wir verfolgen Auflistung an Zahlen über Verfolgte, Geschundene mehr oder weniger wertvolle Oppositionelle. Ich habe keine Möglichkeit, nachzuvollziehen, welche Beweggründe Menschen zu Waffen greifen lassen, sie zu Angreifern oder Verteidigern machen. Aber ich soll den Zahlennachweiskolonnen glauben, die mir andere vorhalten, die ebenso wenig Ahnung von der Motivation eines anderen Menschen haben wie ich? Steigen wir nicht zu oft in Gräben, die uns andere vorgeschachtet haben und posaunen dann Meinungen aus, die wir nur vom Hörensagen oder Lesenmeinen kennen?

Ich glaube, wir verschieben die Maßstäbe und ändern die Betrachtungspositionen allzu beliebig. Wenn man von oben guckt erscheint die Landschaft anders als jemandem, der einen flachen Standpunkt einnimmt. Doch was sehen solche, die von oben nach oben schauen gegenüber jenen, die von unten auf blicken? Aus diesen unterschiedlichen Positionen zu diskutieren, gleicht eher der Begegnung zweier Fremder, die nicht dieselbe Sprache sprechen. Unverständliche Worte sind leere Hüllen. Nicht nachvollziehbare Tatsachen werden nebulöse Behauptungen. Zwischen Wirklichkeit und Behauptung klafft eine gewaltige Lücke, vielleicht sogar eine unüberbrückbare Schlucht. Ich wollte, es wäre anders. Doch ich sehe nur, wie auf der einen Seite immer mehr mit dem Finger auf die andere zeigen und wie sich zwischen den Fronten immer noch tiefere Gräben gegenseitiger Schuldzuweisungen auftun.

Die einen im Osten rufen wieder „Wir sind das Volk“ und die anderen entgegnen mit einem „Aufstand der Anständigen“. Beide Seiten sind weder das Volk noch die Anständigen. Jede Seite ist auf ihre Weise Rufer in der Landschaft und doch nur Schaufelnde am Schützengraben in der Frontlinie gegen den anderen. Behauptungen werden Behauptungen entgegengehalten. Gott sei Dank befinden wir uns nicht im Schützengraben und schießen aufeinander. Noch nicht? Manchmal erhebt sich in mir eine Ahnung, wie einst im 1. und 2. Weltkrieg Soldaten in Gräben lagen, die nur unterschiedliche Gedanken über den anderen im Kopf hatten und diese mit Gewehr- und Geschützmunition verteidigten. Inzwischen rüsten wir uns mit Fakten, Zahlen und Behauptungen auf und verschanzen uns in Gräben, um sie gegeneinander abzufeuern.

Jeder Graben kann zu einen Weg werden, ein Weg an die Frontlinie. Jene, die bewahren wollen und andere, die meinen, voranzuschreiten, schachten gleichermaßen an Schneisen, die andere überwinden müssen. Doch je mehr und je tiefer wir Gräben anlegen, umso weniger Bewegungsraum bleibt. Unsere Gräben sind im Kopf, im Denken über andere zu finden. Wenn sich geistige Kluften weitere Risse bilden, können daraus Schützengräben werden. Noch streitet man an einer imaginären Front gegenseitiger Diffamierungen und Behauptungen. Ich will keine Gräben sehen, sondern Hoffnung und Verständnis. Was kann wer für wen tun, ist die Frage, die mich bewegt. Vielleicht muss in der Tat erst der Untergrund durchforstet werden, bevor man Gräben wieder zuschütten kann.