Sachsen-Anhalts Kost ist wie das Land: Eigen und deftig. Manchmal erinnert sie noch an die mittelalterliche Küche, in der man gern Süßes mit Scharfem verband: In Anhalt gibt es in Butter gebratene Bratwurstscheiben auf Milchreis mit Zucker und Zimt, im Vorfläming reicht man gern zur Bohnensuppe Eierkuchen, im Harz gehört zum Harzer Roller eine tüchtige Tasse heißer Kakao. Ansonsten wird es schwer mit einer Zuordnung, weil es eigentlich keine Landesküche gibt, wie wir sie in Thüringen oder Sachsen finden können. Das Bindestrich-Land hat mehr Küchen zu bieten als die zwei Teile, in die nach dem Landesnamen das Ländle zerfällt. Was wiederum daher kommt, dass der überwiegende Teil des Landes eigentlich zu einem Bundesland Preußen gehören müsste, den es aus geschichtlichen Gründen nicht mehr gibt. Was sich für Herkunfts- und Identitätsfragen nicht unbedingt als förderlich erweist.
Regional kann man die Küche ziemlich gut nach den derzeitigen touristischen Regionen einteilen: Im Norden die Altmärker Küche, die natürlich mit der ostniedersächsischen verwandt ist. Namhaftes Eigenprodukt ist die Altmärker Hochzeitssuppe, für die es freilich in jedem Haus ein etwas anderes, dafür aber jeweils das richtige, Rezept gibt. Und, nach einer Tangermünder Geschichte ist das Essen von Schweinsohren, gebacken, gekocht oder gebraten, vom späteren Magdeburger Erzbischof Dietrich Kagelwit, der damals noch in Diensten Kaiser Karls IV. stand, zu dessen Besuch in Tangermünde in Mode gekommen, weil der geizige Kaiser einen kräftigen Eintopf bestelllt hatte, ohne dass eines seiner Tiere auf der Tangermünder Burg geschlachtet werden sollte. Als der Kaiser nach der Herkunft des Fleisches im Eintopf fragte, führte ihn Dietrich in die Ställe, in denen die armen Schweine lebendig, doch ohne Ohren und Schwänze herumliefen. Im Westen ist es Anhalt. Wie der Norden natürlich eine Spargelgegend. Aber eben mit Eigenheiten wie besagter Bratwurst mit Milchreis oder „Himmel und Erde“, also Kartoffeln, Birnen, etwas Speck, süßsauer gewürzt, mit gebratener Blutwurst. Und Filsen darf man nicht vergessen: Das Osteressen für Arme, aber wirklich gut schmeckend: Was hat man nach dem Winter im Haus? Ein paar altbackene Brötchen, ein paar Eier, etwas Milch, und, natürlich auf dem Dachboden, da hing doch noch etwas Schinken. Westlich, in der reicheren Börde, da hatte das Bötel, vorzugsweise mit Lehm und Stroh, also mit Erbsbrei und Sauerkraut, seinen Platz. Wobei das Eisbein nicht wie in Bayern aus dem Backofen kommt, sondern aus dem Kochtopf. Nur gepökelt sollte es sein.
Für die Ärmeren gab es übrigens regionenübergreifend „Beamtenstippe“ oder „Birnen mit Klump“, wobei unter den Klump Klößchen aus Mehl, Eiern, Salz und Milch, zu einem Teig gerührt, dann mit dem Löffel zu kleinen Klößchen gefornt, in die köchelnden Birnen gegeben, zu verstehen ist. Über das Ganze gebe man noch Speck und Zwiebeln, knusprig ausgebraten.
Das klingt alles nicht nach Nouvelle Cousine? Stimmt. Nährt aber und ist durchaus schmackhaft. Im Harz liegt natürlich der Harzer Käse auf der Lauer. Ein aus Magermilch gewonnener Käse mit einem Prozent Fett und Kümmelgeschmack, wenn es ein Harzer sein soll. Dazu tranken die Harzer Köhler Kakao. sofern sie sich diesen leisten konnten. „Hackus und Knieste“, also ungeschälte kleine Kartoffeln (Knieste) aus dem Backofen und frisches Schweinegehacktes dazu samt Salz-Dill-Gurken, gewürfelten Zwiebeln, Öl und Salz, gehören ebenfalls zur Harzer Küche „der kleinen Leute“. In Mode gekommen, und denk dessen das Überleben der Rasse gesichert, ist das Fleisch des Harzer Roten Höhenviehs, einer eigenständigen rotfarbenen, ans Mittelgebirge angepasste Rinderrasse, die zu den ursprünglichsten deutschen Nutzviehrassen gehört. Bleibt der Süden, das Saale-Unstrut-Gebiet, die Weinregion des Landes. Ja, natürlich, da wird seit über 1000 Jahren Wein angebaut. Aber wir sind ja eher beim Essen – und da gibt es bereits die Thüringer Küche. Kein Wunder, war die Neuenburg doch einst die größte Burg der Thüringer Landgrafen. Wir befinden uns hier also eigentlich bereits auf thüringischem Gebiet. Bratwurst, Klöße, das ganze Programm. Mit einer Besonderheit in Würchwitz: Dem Milbenkäse, der früher in der Zeitzer und Altenburger Region sehr verbreitet war und durch seinen charismatischen Propagandisten Helmut „Humus“ Pöschel wieder zu neuen Ehren als eine wirklich superbe Bereicherung der Küche bekannt gemacht wurde: „Wer einmal probiert hat, kommt nicht wieder davon los. Das ist eine Droge. Ich sage immer, der Milbenkäse läuft von allein die Speiseröhre hinunter.“
Also, was soll das Gejammer, Sachsen-Anhalt hätte keine eigene Küche? Sie ist nur, wie das Land, in die Regionen unterteilt – und wie es auch nach 27 Jahren bis auf einige um der Politik willen Korrekte immer noch keine überzeugten, mit dem Land als solchen verwurzelten Menschen gibt, sondern Altmärker, Anhalter, Bördianer undsoweiter, bietet eben auch genau die Küche dieses Abbild: Vielfalt statt Einheit. Das könnte doch auch das politische Programm werden, die Einzelteile dieses Programms lägen ja sozusagen auf der Straße.
Der Autor dieses Beitrags hat zwei Kochbücher zu Sachsen-Anhalt herausgebracht: „Reisen durch die Küchen Sachsen-Anhalts“, 2006 beim BuchVerlag für die Frau Leipzig als Erzähl- und Rezeptbuch samt reichem Bildteil zu Land, Leuten und Essen mit Fotografien von Hagen Neßler, erschienen – und „Genießen wie Gott in Anhalt“, 2012 im Verlag ost-nordost Magdeburg aufgelegt. Im anhaltischen Kochbuch gibt es eine Erweiterung der anhaltischen Küche. Mich interesierte, wie, beziehungsweise ob die ausländischen Mitbürger die einheimische Küche bereichern. Klar, geht man zum Döner-Imbiss, findet man auch die rechten und linken jugendlichen Mitbürger in der Schlange. Und ausländische Restaurants gibt es ebenfalls inzwischen etliche. Aber wird, außer abenteuerlich zu „Pasta“ erklärten weichgekochten Maccaroni mit Tomatensoße auch „anders anhaltisch“ gegessen? Schließlich sind die Sachsen-Anhalter durchaus ein reiselustiges Völkchen. Und nicht jeder reist doch hoffentlich nach Sevilla, um dort Eisbein mit Sauerkraut zu essen, wie vom Autor zur Expo 1992 in Sevilla im Deutschen Pavillon erlebt. Das ist jedoch noch verhalten, je nachdem wie nah man selber mit ausländischen Freunden lebt, sie besucht, sich besuchen lässt. Trotzdem kamen beispielsweise afrikanische, in Anhalt vom Dessauer Imam Amadi Indjai kochte sie mit dem Autor. Die jüdische Gemeinde in Dessau gewährte einen Einblick in ihre Küche. Alle diese Gerichte werden auch bei den Gemeindemitgliedern zu Hause gekocht. Und deren Zuhause heißt heute Dessau. Das findet man in Halle, Magdeburg, Möckern, überall da, wo inzwischen auch Menschen anderer Nationen sich angesiedelt haben. Insofern: Ja, wir vergessen unsere Küche nicht und lernen auch wieder die alten, einfachen Gerichte zu kochen. Und: Ja, unsere Küche wird bunter, weil jeder, der hier bleibt, etwas aus seiner Heimat mitbringt. Und das erste, was uns näher kommt, ist der Alltag, sprich das Essen. Längst begegne ich Magdeburgern in den orientalischen Einkaufsmärkten der Stadt. Es ist noch ein vorsichtiges Probieren, aber beginnt das gemeinsame Leben nicht immer mit der Neugier? Ludwig Schumann