Ich gebe es zu: Mein letzter freiwilliger Kinobesuch liegt lange zurück. Es muss in diesem riesigen, mich an den kürzlich in Berlin abgerissenen „Palast der Republik“ gewesen sein. Na, hier! Kurz vor dem Tunnelneubau am Hauptbahnhof. „Max und Moritz“ Nein! „Moritzhof“! Nein! „CinemaxX“! Alles Quatsch! Das Kino „Moritzhof“, also das Studiokino, befindet sich in Magdeburgs Neustadt. Und die sich orthographisch sehr fragwürdig nennende „Flimmerbude“, also mit großem „X“ am Ende des Namens „CinemaxX“ im Zentrum der Stadt.
Der Film, den ich sehen wollte, war, sagen wir es „charmant“, „gut“ besucht. Vor mir saß niemand. Dieser Umstand schuldete aber der Tatsache, dass ich in der ersten Reihe saß. Wie damals. Da ich noch Jung-Erwachsener, also Kind war. Als ich ein Kind noch war, wohnte ich nicht in Neustadt oder im Zentrum. Nein, ich wohnte mit meinen Eltern im Westen, in Stadtfeld. Dort sah man oft Schlangen. Keine Kreuzottern, Ringelnattern oder Blindschleichen. Diese Schlangen apostrophierten sich im sprachlichen Alltag der DDR als sogenannte „sozialistische Wartekollektive“. Man sah sie vorm Konsum, vor den damals noch zahlreichen Bäckerläden und vor allem vor den „Olvenstedter Lichtspielen“, dem OLI. Dieses Filmtheater war quasi mein zweites Kinderzimmer. Nach über 50 Jahren kann ich mich natürlich nicht mehr an jeden Film erinnern, den ich als Kind dort gesehen habe. Als Kind schon war ich immer höflich und zuvorkommend. Zu den Eltern, den Lehrern, aber vor allem zu den Platzanweiserinn im OLI. Da sie bestimmt schon eine Ehrengruft unter den OLI bezogen hat, darf ich den Klarnamen dieser tollen Frau nennen: Frau Fetterhenn! Jene Platzanweiserin hielt mir, ob ich nun das OLI besuchte oder nicht, immer den mittleren Platz in der ersten Reihe frei. Noch heute, wenn ich Gedanken an mein OLI bin, verneige ich mich zutiefst vor diesem gelebten Humanismus jener Frau Fetterhenn.
Wenn ich aber die Gedanken der Erinnerung an mein OLI weiter vertiefe, weiß ich eines: Der Film, der am meisten von mir als Kind angesehen wurde, war der erste „Cowboy-Film“ der DDR. Gut! Es hieß damals bei uns nicht „Cowboy-“ sondern „Indianer- Film“. „Die Söhne der großen Bärin“. In der Hauptrolle der DDR-Chef-Indianer Gojko Mitic. In diesem Film war der Schweinehund und der Widersacher von Tokaito Jim Blake! Den verkörperte der tschechische Schauspieler Jiri Vrstala! Ein Ekelpaket vor dem Herrn. In der Rolle natürlich. Als ich aber etwas später erfuhr, dass dieses Ekelpaket, dieser Schauspieler Jiri Vrstala auch meinen von mir so geliebten „Clown Ferdinand“ verkörperte, konnte ich mich nicht mehr entscheiden. „Die Söhne der großen Bärin“ oder „Clown Ferdinand“. Die Hormone nahmen mir die Entscheidung ab. Kurz gefühlt, ich kam in die Pubertät. Plötzlich wollte ich im OLI andere Filme sehen. Anno 1970 war über dem Eingang des OLI ein noch handgemaltes Filmplakat zu sehen. „Blutige Erdbeeren“. Ein amerikanischer Film, dessen Inhalt ich eigentlich viel später richtig begriff. Auch diesen Film habe ich mir fast sooft im OLI angesehen wie „Die Söhne der großen Bärin“. Ich gebe heute schamhaft zu. Nur wegen dieser einen Szene: Ein blonder Immatrikulant mit großer, runder Nickelbrille schrieb sich an der Uni ein. Eine von der Natur was die Oberweite betraf, bevorzugte Sekretärin entblößte in dieser Szene jene Oberweite und begann hinter herausgezogenen Registraturfächern den Jungen mit der großen Brille einer „mündlichen Prüfung“ zu unterziehen. Doch eines hoffnungslosen Tages war diese von mir so geliebte Szene nicht mehr existent. Allen denen den es wir mir so ging, riefen empört: Wo ist diese Szene? Viele vermuteten, diese Szene hat die „Stasi“ rausgeschnitten. Die Jungs von „Horch und Guck“ haben bestimmt viel verbrochen, aber für jenes Tun waren sie mal nicht verantwortlich.
Ein sehr guter Freund von mir war Filmvorführer. Viele Jahre auch in meinem OLI. Er erzählte mir hinter vorgehaltener Hand folgenden Vorgang: Von diesem Film „Blutige Erdbeeren“ gab es nur drei Kopien. Und diese reisten damals durch die ganze Republik. Jeder Filmvorführer hatte die Macht und den Willen sich aus der Filmrolle ein Bild jener Szene herauszuschneiden. Bei sieben Bildern in der Sekunde und 15 Bezirken fiel irgendwann diese Szene dem Lustgewinn der Filmvorführer zum Opfer. Eines noch zum guten Schluss. Seit vielen Jahren besitze ich eine DVD des Films „Blutige Erdbeeren“. Auf diesem Medium ist diese Szene gut erhalten und mit Freude anzusehen. Wenn aber dieser Film noch einmal im OLI laufen sollte, dann gehe ich hin und bin sehr gespannt.