Wird das Leben unsicher? Worauf kann man sich noch verlassen? Überall scheint man in Abgründe zu blicken. Ängste sind allgegenwärtig. Schein und Schattenseiten der Informationsgesellschaft. Von Thomas Wischnewski Egal worein Sie schauen, ob ins TV-Gerät, in Online-Angebote und Zeitungen; halten Sie Ihr Ohr an den Radioapparat oder lauschen Sie politischen Reden, den Gesprächen unter Kollegen, Freunden und Verwandten – das Grauen ist immer schon da. Es vergeht kein Tag mehr, der ohne Schreckensnachrichten beginnt. Im weiteren Tagesverlauf bauschen sie sich auf, klingen wieder ab oder werden von neuen überholt. Am Abend erhält man zur berichteten Nachrichtenkost nochmal ein Dessert in der Tagesschau. Wer möchte, kann sich einen Nachschlag mit vertiefenden Hintergrundsendungen sowie angeblich weiterführenden Informationen, Daten bzw. Fakten auf Internetseiten gönnen. Unweigerlich wird man ans Info-Futter-Regal zum Bescheidwissen gedrängt. Zur Erheiterung folgen Satire- und Comedysendungen, die denselben Stoff auf humoreske oder ironische Weise durchkneten und zur geistigen Verdauung unter einer abendlichen Entspannungsillusion anbieten.
Doch was wird dem Bürger wirklich aufgetischt? Eine Dauerversorgung an Ängsten. Die Speisekarte bietet mittlerweile alles, was ein Hirn fressen kann. Ängste vor Krebs, multiresistenten Keimen in Krankenhäusern, Allergien, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, des Bewegungsapparates und schleichende Abhängigkeiten sind ohnehin überall. Vorm Alter muss man sowieso Angst haben. Demenz droht, permanente Pflegenotstände fördern das hilflose Dahinsiechen, Altersarmut ist die allgegenwärtige Begleiterscheinung der letzten Lebensphase. Nebenher steigt allerorten und vielfach die Kriminalität. Grabscher, Vergewaltiger und Raubstraftäter haben die Macht der Nacht an sich gerissen. Offenbar ist es nicht mehr weit, bis marodierende Banden die Herrschaft auf öffentlichen Straßen und Plätzen übernehmen und das friedliche Shopping-Getümmel aufmischen. Vergessen Sie auf keinen Fall die Angst vor dem Klima. Wehe Sie tragen Ihren Einkauf noch mit einer Plastiktüte aus dem Geschäft. Die Verachtung aller Umweltschutzpatrioten ist Ihnen gewiss.
Wie bitte, Sie essen Fleisch? Sie entlarven sich als Befürworter der Massentierhaltung. Das böse Cholesterien sollte Ihnen auf jeden Fall Angst einjagen. Kohlenhydrahte, allen voran Zucker töten ganze Menschengruppen. Und wenn Ihnen das Gewissen hierbei noch nicht richtig zusetzt, dann sollte Ihnen bald der Feinstaub den Garaus machen. Denken Sie auch an die Gefahr von rechts und die von links. Noch schlimmer sollten Sie sich vor der untätig schweigenden Mitte fürchten. Und wenn Ihnen das alles nicht reicht, es gibt da auch die Allmacht der ganz großen Konzerne, die bereits bis in die allerheiligste Intimsphäre vorgedrungen sind und Ihre Verhütung manipulieren bzw. wie sich Frauen vor welchen Ängsten während der Menstruation schützen können. Ihre Daten liest überall jeder, der gern möchte. Seien Sie vorsichtig, was Sie öffentlich sagen oder schreiben! Es könnte Ihnen als Hass oder zumindest falsche Gesinnung ausgelegt werden.
Ach so, vor Flüchtlingen müssen Sie sich stets in Acht nehmen. Die schleifen Sie bald in die nächste Moschee und fordern Ihnen ein Gebet gen Mekka ab. Wenn Sie übrigens noch keinem Terroristen begegnet sind, liegt das wahrscheinlich nur daran, weil Sie einfach nicht richtig hinschauen. An Ihr liebes Geld muss ich Sie gar nicht erinnern. Das ist ja immer in Gefahr. Alles wird teuer und jeder will davon etwas wegnehmen. Geheime Verschwörer saugen daran und natürlich der Staat, der von denselben gelenkt und geleitet wird. Bitte haben Sie auch Angst vor jedem Politiker, vor denen, die an der Macht sind, weil sie gar nichts richtig machen können und auch vor denen, die an die Macht wollen. Letztere machen dann nämlich alles noch viel schlimmer als es schon ist. Die Kultur stirbt längst und wird nur von einigen Wenigen hilfsbedürftig beatmet. Jobverlust? Das macht Ihnen doch keine Angst mehr? So etwas trifft heute jeden. Das gehört zum Lauf der Dinge.
Haben Sie es schon gemerkt? Die Despoten sind auf dem Vormarsch, in der Türkei, in den USA, in Russland und auch in Europa gehen sie um. Welches Übel ist das kleinere oder das größere? Das ist mittlerweile egal, weil alles übel ist. Man kann zu keinem anderen Schluss kommen, wenn man den Blick in Medienkanäle richtet. Ein Horrorszenario jagt das nächste und über die sekündliche mediale Nachrichtenverseuchung braut sich dann ein Unwetter in der vernetzten Welt zusammen, in der Art als würde im nächsten Moment die Apokalypse drohen. Was folgt sind Gefühlsausbrüche als Fluch, Betroffenheit und Angst. Und jeder steckt ein wenig jeden an. Daran erodiert die Freude und aus Spaß wird Zynismus oder Galgenhumor.
Das ist der wirklich gefährliche Klimawandel innerhalb der Informationsgesellschaft, in der jedes Wort seziert und mit Angemessenheit sowie Konformität aufgewogen wird. Wenn vor 20 Jahren der Nachbar eine blöde Bemerkung machte, wendete man sich ab und ließ ihn stehen. Heute heißt das Erregungspotenzial Shitstorm. Wer einen solchen auslöst, wird wiederum durch den medialen Fleischwolf gedreht. Haben Sie etwa Angst, etwas zu verpassen?
Wie steht es eigentlich um Ihren Stromanbieter? Ist der günstig und öko genug? Ach, Sie möchten sich noch ein paar elektrische Geräte anschaffen. Prima, da gibt’s gleich einen passenden Tarif. Sind Sie sicher, dass Sie für Ihren Handyvertrag nicht zu viel blechen? Durchforsten Sie bitte bei der Gelegenheit gleich Ihre Versicherungspolicen. Da gibt es immer Optimierungsbedarf. Informieren Sie sich auch über den günstigsten Krankenkassentarif! Welche Kasse bietet was, oder warum zahlen Sie immer noch zu viel?
Seien Sie mal ehrlich, durchschauen Sie den Dschungel an Tarifen mit XYZ-Wahlmöglichkeiten für alle Geräte, Dienstleistungen und Angebote wirklich? Ich möchte behaupten, kein arbeitender Bürger mit familiären, bekanntschaftlichen oder ehrenamtlichen Verantwortungen und Erholungsanspruch steigt durch das Vertrags-Wirrwar von Kombi-, Multi- und Special-Möglichkeiten. Apropos Erholung – also wenn Sie da nicht auf dieses oder jenes achten, machen Sie bestimmt etwas falsch. Alles und jedes muss sich im Wettbewerb miteinander messen lassen. Das hilft dem Verbraucher – so die allgemeine politische Formel. Hilft es Ihnen wirklich? Wenn ich krank bin, will ich nichts vergleichen, sondern Unterstützung im Gesundungsprozess. Was will mir jemand einreden, der Krankheit als ein Wettbewerbsaspekt anführt?
Beinahe hätte ich den schlimmsten Angstmacher vergessen: den Arbeitsplatz. Arbeit macht doch krank. Steht jedenfalls tausendfach geschrieben. Experten warnen vor allem Möglichen, was Ihnen während der beruflichen Tätigkeit passieren kann. Gut, Sie müssen nicht arbeiten gehen. Es gibt heute Hartz IV. Allerdings sollte man davor auch Angst haben. Geheiratet wird heute sicher seltener, weil man natürlich vor einer Trennung Angst haben muss. Was man nicht tut, davor muss man sich nicht fürchten.
Hand aufs Herz – gibt es einen angstfreien Lebensbereich? Vergessen Sie bitte auch nicht den Tod. Schließlich ist das Leben die tödlichste Gefahr. Nüchtern betrachtet, speisen sich gesellschaftliche und individuelle Wahrnehmung aus einem ausufernden Potenzial an Informationsimpulsen. Weil Medien stets auf Politiker und Politiker immer auf Medien schauen und die Verbreitung dieser gegenseitigen Aktionen und Reaktionen ins Uferlose wachsen, verbreitet sich aus diesem Dunstkreis ein Behauptungsbild über unser Sein, das wenig mit der Alltagsrealität zu tun hat.
Verwundert es Sie, dass sich Menschen unter einem sich vernebelndem Leben verunsichert fühlen können und Angst haben? Mich nicht. Aber Politiker sind plötzlich verunsichert, dass sie auf verunsicherte Bürger treffen, die über den gestiegenen Angstschwall aus einer Nachrichtenflut der Informationsgesellschaft Orientierung und einen Weg aus dem Labyrith suchen. Es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass Leute aus dieser Entwicklung Kapital schlagen, die einer unüberschaubaren Komplexität mit einfachen Antworten begegnen. Es existiert eine Sehnsucht nach einfachen Antworten. Selbst solche, die mit schlichter politischer Programmatik auftrumpen, werden nichts lösen, weil sie selbst Ängste anheizen und kanalisieren. Es gibt ein traditionelles Hausmittel, um Lebensfreude gegen jeden negativen Einfluss neu zu entfachen: Medienkonsum einstellen oder verringern und sich mit Freunden umgeben. Freude entsteht dabei ganz allein. Gut, dass an dieser Stelle der Platz einer Zeitungsseite begrenzt ist. Somit kann ich endlich aufhören, weiter Angst zu verbreiten.