Zum freien Denken gehört auch das kräftige Wort. Widerstand entsteht nicht im Schafgatter frömmelnder Prüderie. „Neger“, sagte mir mein afrikanischer Freund Amouzou, „Neger kannst Du zu mir sagen. Es ist der Ton wichtig, in dem Du dieses Wort aussprichst.“ Nicht das Wort selbst ist unwürdig. Erst wenn ich es abschätzig sage, nähme es ihm von seiner Würde. Augenhöhe ist eine Sache des Tons. Wie heißt das im Deutschen so treffend? Man solle sich nicht im Ton vergreifen!
Und dann heißt es im Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Allein für diesen Satz im Grundgesetz verzeihe ich der Generation der Gründer der Bundesrepublik, die ja nicht unbelastet war, vieles. Mit anderen Worten: Nur allein um dieses einen Satzes willen, das sollten wir uns in aller Demut immer wieder vor Augen halten, hat das Grundgesetz bis heute Bestand. Das ist Ihnen zu theoretisch?
Die junge Frau, die in Heidenau der Kanzlerin das F-Wort an den Kopf warf, kann noch nichts davon gehört haben, dass Ton und Würde zueinandergehören. Vielleicht hat sie es ja auch noch nicht für sich selbst erfahren? Mich stört dabei nicht einmal der Umstand der „Majestätsbeleidigung“. Ich mag das Wort nicht, weil ich, obgleich gewiss alles anders als prüde, es nicht verwenden würde wegen seines abwertenden Nimbus. Erotik feiert die Körperlichkeit. Das F-Wort ist nicht erotisch. Es zieht mit dem Aussprechen diejenige, der ich es an den Kopf werfe, in den Schmutz, beraubt sie ihrer Würde. Das mache ich nur, wenn ich mich zu denen zähle, die das Gefühl haben, nie mit Würde behandelt worden zu sein.
Wer wegen jeder Mark auf das Amt muss, wer sich freuen soll, wenn er demnächst pro Kind 2 Euro mehr im Portemonnaie findet, wer diese Würdelosigkeit, die aus der Ohnmacht, die einen dort in der Rolle des Bittstellers beschleicht, wirklich erlebt hat, weiß wie würdelos es ist, in dieser Gesellschaft zu den Bedürftigen zu gehören. Da ist es völlig egal, ob einer verschuldet oder unverschuldet, mit keiner oder sehr guter Ausbildung in diese Situation geraten ist. Irgendwann ballt sich dieses Ohnmachtsgefühl wie bei den Katzen durch das ständige Putzen des Fells sich im Magen oder Darm ein Katzenhaarknoten bilden kann, der dann erbrochen wird oder operativ entfernt werden muss. Dann rennt man jedem nach, den man für einen Heiler hält. Dann ist etwas aus unserem Leben gewichen, das zu den Grundelementen gemeinsamen Lebens zählt: Die Dankbarkeit.
„In der Dankbarkeit gewinne ich das rechte Verhältnis zu meiner Vergangenheit. In ihr wird das Vergangene fruchtbar für die Gegenwart.“ Das schrieb der evangelische Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, als er 1944 in der Haft saß, die schließlich zu seiner Hinrichtung führte. Kein Verzweifelter, sondern einer, der aus seiner Hoffnung heraus verzeihen, der dankbar bleiben konnte. Einer, der auf festem Grunde stand, trotzdem alle Umstände dagegen sprachen.
Die Dame in Heidenau kann von Dankbarkeit nichts gewusst haben. Nein, ich meine jetzt nicht, dass sie der Kanzlerin gegenüber hätte dankbar sein sollen. Aber wenn dieser Begriff der Dankbarkeit zu ihrem Leben gehört hätte, dann wäre sie nicht auf den Gedanken gekommen, dieses F-Wort zu wählen. Eine Demokratie lebt auch von Dankbarkeit. Die signalisiert einem anderen, dass ich ihn ernst nehme. Dass ich mich mit ihm solidarisiere. Au, verdammt, wieder so ein Unwort: Solidarität. Wir haben doch gerade erst gelernt, dass das Individuum wichtiger als das Kollektiv ist, sprich Team. Natürlich wird heute jedem Teamfähigkeit positiv attestiert. Aber die Erziehung signalisiert die Vorfahrt für das Individuum. Hat man es nicht bedacht, ist es am Ende gar gewollt? Das Resultat zeigt sich im ausgeprägten Egoismus, in einer geradezu unbedarften Anspruchshaltung. So weit, so ungut.
Von Dietrich Bonhoeffer stammt auch der Satz: „Dankbarkeit sucht über der Gabe den Geber.“ Wenn ich den aber nun nicht mehr finde? Oder, weil ich nicht das Gefühl habe, eine Gabe erhalten zu haben, ihn gar nicht erst suche?
Wer ist der Geber, wer der, der erhalten hat? Haben Sie jemals von Politikern ein Wort der Dankbarkeit gegenüber uns, dem Souverän, gehört? Ich meine nicht den rhetorischen Dank an die Wähler seitens der Siegerpartei an ihren Wähler. Ich meine den tiefempfundenen Dank für die Arbeit, für die gesellschaftlichen Beiträge, auch finanzieller Art wie Steuern, Krankenbeiträge, Rentenbeiträge usw., den gewählte Politiker ihrem Volk widmen? Kürzlich, anlässlich einer Lesung, begann der Hausherr die Autoren mit einem Dank zu empfangen. Er dankte für die Mühe, der sich die Autoren unterzogen. Ich sagte, dass er damit ein Gesellschaftsmodell entworfen habe: Eine Gesellschaft aus Menschen, die einander danken für die Arbeit, für die Dienstleistungen, die sie tun: Was müsste das für eine entspannte Gesellschaft sein, bevor wir beginnen, über Lohn und Vergünstigungen zu reden? Aber wo findet dieser Dank noch öffentlich statt? Bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes? Wie wäre es, wenn man die Erneuerung von Schulen zu Bildungsstätten, die bereits äußerlich das Signal fröhlichen Lernens senden, als Dank der Politik an die Steuerzahler feiert? Und zwar nicht die von einigen Vorzeigeschulen, sondern das als Grundsatzprogramm für bessere Bildungsmöglichkeiten landauf, landab begreift? Wir schenken unseren Kindern Schulen, die der Würde unserer Kinder entsprechen. „Dankbarkeit macht das Leben erst reich.“ Auch so ein Satz von Dietrich Bonhoeffer. Haben Sie schon einmal darüber gestaunt, wieviele Mitbürger mit ausländischen Wurzeln in Restaurants, in Bäckereien, als Gemüsehändler, in den Krankenhäusern, an den Hochschulen, wo auch immer, daran mitarbeiten, dass es uns gut geht? Staunen ist die Vorbedingung von Dankbarkeit. Unser Bundesinnenminister hat das Staunen verlernt, und damit die Dankbarkeit: Der christliche Herr de Maizière will die afrikanischen Flüchtlinge, die eben dem Tod entronnen sind, wieder über das Mittelmeer zurückschicken. Karl Ernst Thomas de Maizière spricht sicher nicht, wie die Heidenauer Dame, das F-Wort aus. Aber diese Ankündigung ist von der gleichen Würdelosigkeit geprägt. Man sollte ihm das Grundgesetz unter das Kopfkissen legen. Entschuldigen Sie, das waren einfach so Gedanken, die dem langsamen Leser am Vorabend des dritten Weltkrieges durch den Kopf gingen.