Das kleine und das große Ich

ich_klein-grossDie drei Buchstaben i, c und h erzählen davon, dass ich bin. Über die Unfassbarkeit und Vielseitigkeit eines Ichs verraten sie nichts. Weiß ich, wer, wie und was ich bin oder wissen es die anderen? Eine Ich-Betrachtung.

Ich! Jeder hat es, jeder geht davon aus, dass es anderen um ihn herum auch haben. Wir verwenden dasselbe Wort für die Beschreibung eines Selbstbegreifens und wissen zugleich, dass doch jeder ein völlig anderes ist. Gut, irgendwie sind wir alle ähnlich, zumindest in der groben körperlichen Beschaffenheit. Wenn man physisch gesund ist, tragen zwei Beine durchs Leben, greifen zwei Hände an den Armen nach allem, was fassbar sein könnte und auf dem Rumpf hebt sich abgesetzt vom Hals ein Kopf ab, der nun nach unserer Vorstellung und dem Stand des Wissens eben diesen Ort beherbergt, in dem sich das Ich selbst erkennt. In kleineren Details werden Unterschiede sichtbar. Größenverhältnisse, Hauttyp, Physignomie des Gesichts, Haarfarbe usw. Hier schlummert die erste grundsätzliche Annahme, dass ein Gegenüber nicht identisch mit mir selbst sein kann. Was bin ich? Die Summe meiner einzelnen Bestandteile, eingeschlossen meiner genetischen Anlagen, den daraus resultierenden biochemischen Prozessen, die quatitative und qualitative Menge meines Wissens und meiner Erfahrungen, sich als energetisches Potenzial im Hirn schlummern und jederzeit abrufbar sein sollen. Alles schön und gut – aber reicht das schon aus, um mich selbst erfassen zu können? Seit wir als Menschen mit Individualität und Identität umgehen, versuchen Philosophen, Theologen, Psychologen, Hirnforscher, weise Denker oder gar Sektengurus das Ich und seinen Zusammenhang in der Welt zu beschreiben. Am Ende ist man damit noch lange nicht.

Vielleicht rührt das Dilemma einfach daher, dass jedes Ich nur mit zeitlicher Frist unter den Lebenden weilt, ständig neue entstehen und wieder vergehen. Der fortlaufende Umschlag, die damit verbundene Ambivalenz und permanente Entwicklung des Ichs lassen eine Kategorisierung und Definition schier unmöglich werden. So schlicht und ergreifend man sein Selbst in drei Buchstaben zusammenfasst, so einfach ist es wiederum nicht, wenn es darum geht, sich selbst näher zu erklären. Können Sie etwa Ihren genetischen Code benennen? Wie viele Nervenzellen zählt Ihr Gehirn? Man kann dazu eine statistische Angabe machen, aber niemand könnte es ganz genau sagen. Mancher ruft aus, das sei alles gar nicht wichtig, um zu wissen, wer man ist. Schließlich hätte man einen Namen und würde sich selbst sehr genau kennen. Kein anderer war schließlich die ganze Zeit über Begleiter des eigenen Lebens als man selbst. Man kennt sich und doch wiederum nicht so ganz genau.

Man weiß heute, dass ein Neugeborener zahlreiche Facetten seiner sich entwickelnden Individualität codiert in den vererbten Genen trägt. Das Ich kann sich in der ersten Phase des Lebens noch gar nicht selbst benennen. Jeder muss das Ich-Wort der Selbstbezeichnung erst mit dem Erlernen der Sprache verinnerlichen. Bis hin zum Potenzial der Intelligenz reicht der von den Eltern weitergereichte Nährboden. Was jedoch eine sich herausbildende Persönlichkeit auf diesen genetischen Humus pflanzt, wie es alles hegt und pflegt, fördert und beschneidet, dass ist derart vielfältig, dass niemand eine abschließende Aussage darüber treffen könnte, wer wie wirklich werden würde. Vergessen sei nicht – so schmerzlich es klingen mag –, die Vollkommenheit eines Ichs vollendet sich erst im Augenblick des Todes. Bis dahin bleibt man stets unvollkommen, zumindest aus Sicht der Lebenden. Der Versuch einer Beschreibung, worin ein Ich mit dem Ableben den Anschluss ans Leben suchen könnte, würde an dieser Stelle zu weit führen. Wer, wie und was bin ich, ist schon eine so ausufernde Frage, die nur jeder mit sich selbst ausmachen kann. Allein eine innere Auseinandersetzung darüber zu führen, besitzt die Qualität eines Gordonschen Knotens.

Offensichtlich reicht es nämlich nicht, die Summe der physischen Bestandteile und die Möglichkeiten der eigenen Gedanken als angemessene Definition eigener Indentität anzugeben. Was ist mit der Tatsache, dass die elementaren Bausteine, also dass eine bestimmbare Menge atomarer Bestandteile keinesfalls für die Dauer unseres Seins unseren Körper ausmachen? Die Wissenschaft sagt uns, dass sich jeder im beständigen Wechsel befindet. Statistisch sollen sich innerhalb von sieben Jahren alle Atome austauschen. Und trotzdem erwacht ein jeder am Morgen und weiß doch sehr genau, dass er immer noch der ist, der er gestern war. Möglicherweise ist es eben dieses kleine Wörtchen Ich, dass als verbalisiertes Modell so einfach strukturiert ist, dass man sich derart stabil darunter begreifen kann. Andererseits könnte es wiederum nicht ausreichen, um die Beweglichkeit der Persönlichkeit zu beschreiben. In den ersten Lebensjahren ist ein Ich eher klein. Es hat keine Ahnung von Charaktereigenschaften, intellektuellen und kreativen Fähigkeiten, die im selbstständigen Meistern eines erwachsenen Daseins benötigt werden.

Welche Möglichkeiten besitzen wir, um ein Ich auf eine Waagschale zu legen und womit wollten wir es wiegen? Etwa an beruflichen Titeln, an Kontoständen, an Wohnbehausungen, an künstlerischen Talenten oder geistigen Leistungen? Wir tun das. Aber macht das ein Ich gegenüber einem anderen größer oder schwerer? Die Tatsache, dass allein die Ich-Bezogenheit dazu in der Lage ist, körperfremde Materie wie Geld, Kleidung, Hausrat, Smartphones, gar Lebenspartner oder Haustiere als „mein“ bezeichnen kann, schenkt einen Ansatz, dass Ich offensichtlich nicht an der Körperoberfläche aufhört. Jeder atmet unermüdlich Luft ein und nimmt Nahrung zu sich – und schließlich verbinden sich diese Stoffe dadurch mit jedem.

ich_klein-grossWas ist mit den Menschen, die uns prägen, zunächst Erzeuger, Erzieher und Lehrer, später auch Freunde, Liebende, Verwandte, und Kollegen. Je mehr Menschen ein Ich begegnet, umso facettenreicher entwickelt sich dessen Sicht auf die Welt und auf die Bewertung der eigenen Persönlichkeit. Daraus könnten tiefgreifende Verhaltensveränderungen folgen. Ich ist also nicht nur die Aufzählung innerer Komponenten, sondern auch unzähliger äußerer. Wer, wie und was ich bin, bin ich nur im Spiegel der anderen. In so einem Spiegel kann man sich anderen gegenüber klein und hilflos fühlen oder eben ihnen überlegen. Die Körpergröße spielt dabei oft gar keine besondere Rolle. Es muss nicht einem eine definierte Machtposition dafür verantwortlich sein, dass man sich einem anderen gegenüber mal kleiner oder mal größer sieht. Besondere Fähigkeit lassen andere herausragen und es sind die Bewunderer selbst, die einen anderen auf ein Podest heben. Wer sich selbst klein sieht, macht andere groß.

Ein Ich ist also gar keine unverrückbare Angelegenheit. Am deutlichsten wird eine Ich-Instabiltät unter demenziellen Prozessen. Plötzlich werden Lücken zu sich selbst sichtbar. Der Geist ist nicht mehr in der Lage, die eigene Ich-Geschichte vollständig zu erhalten und der Bezug zur Umgebung geht verloren. Oder man nimmt schwere psychische Erkrankungen wie sogenannte gespaltene Persönlichkeiten. Mehrere Ichs können in ein und demselben Menschen wohnen und das eine weiß nichts von dem anderen. Warum heute ein bestimmtes Ich regiert und morgen ein anderes, bleibt ein Rätsel.

Die schönste und hoffnungsvollste Einsicht über jedes Ich findet sich in dessen Unergründlichkeit. Der Geist, der in uns wohnt, der mit dem eigenen Leben erwacht und sich auf einen Weg macht, ist derart plastisch, dass er alles Mögliche in sich aufnehmen kann – sich selbst, andere und anderes und sogar die Vorstellung, dass sein Ich unendlich fortexistiert. Unter dieser Aussicht löst sich sogar die Unterscheidung in kleine oder große Ichs auf. Thomas Wischnewski