Das Ich – eine Herausfindung

raszkowskiIch Denk ich, so bin ich! Wohl! Doch wer wird immer auch denken? Oft schon war ich, und hab wirklich an gar nichts gedacht! J. W. v. Goethe

So sprach der Dichter und Denker! Wer hätte das gedacht? Dass er jemals an nichts dachte und uns dies auch noch mitteilen musste, damit wir beruhigt sind, falls uns das auch einmal passiert. Dabei hat Herr Descartes zirka 150 Jahre zuvor sich so sehr angestrengt, „Ich denke, also bin ich“ herausgefunden zu haben. Und wie ist es mit dem SEIN? Das Sein bestimmt das Bewusstsein, haben wir mal gelernt. Der Dialektische Materialismus – von Marx und Engels begründet. Ursprung bei Hegel. Und was lesen wir dort unter anderem?: Die jeweilige Entwicklung einer bestimmten Ebene resultiert nicht aus einem harmonischen Fortschreiten, sondern entsteht durch den Konflikt und die Aktualisierung der jeweiligen, den entsprechenden Phänomenen innewohnenden Gegensätzlichkeiten, den „Grundwidersprüchen“.

Die beiden sagen, es schreitet also nichts harmonisch fort. Das wäre ja auch zu schön. Es gibt einen Konflikt, immer, damit hat man sich einfach abzufinden und daraus entwickelt sich die Entwicklung. Was soll sie auch sonst tun? Und das ICH ist Teil des Konfliktes. Nun frage ich, wer will das sein? Wollen Sie Teil eines Konfliktes sein? Von Vornherein? Und von damals bis heute sind nochmal zirka 150 Jahre vergangen. Einen Versuch wert, herauszufinden, wie sich die Entwicklung entwickelt hat.

Mal angenommen: Sie mögen andere Musik als Ihr Nachbar, zum Beispiel Ravi Shankar mit seiner Sitar, wegen des seelischen Gleichgewichtes; Sie haben Bambus auf dem Balkon und einen kleinen Springbrunnen, und der Nachbar mag neonfarbige Geranien und hört Peter Alexander und manchmal auch Aufnahmen von Chören, bei denen er mitgesungen hat, was ihm sehr gut tat. und er stimmt ab und zu mit ein, das geht gar nicht anders. Sie legen sich also asketisch auf ihr Nagelbrett und wollen meditieren, er singt vom Kuckuck, der auf dem Baum sitzt, Simsaladimbambasaladusaladim, das vereinbart sich vielleicht noch etwas mit der Sitar, aber Sie muckern schon herum und spüren so zwei, drei Nägel, weil die Anspannung, die nötig wäre, um sie nicht zu spüren, aufgrund der Ablenkung nachlässt. Da klingelt beim Nachbarn das Telefon, er freut sich: Sein Freund vom Seemannschor ist von der Weltreise zurück und obwohl er hineingeht in die Wohnung und aber die Balkontür offenlässt, hören Sie, wie sie über Madagaskar reden und natürlich das dazugehörige Lied hervorholen, aus dem Gedächtnis. Es geht ihm gut! Er freut sich über den Anruf, die Erinnerung, seine pinken Geranien. Und Sie? Setzen sich Kopfhörer auf und lassen ihn singen. Also: Sie sind nicht Teil eines Konfliktes geworden. Über Ihnen ist eine alleinerziehende Mutti eingezogen. Es ist warm, alle sind auf den Balkons. Sie haben ihre Kopfhörer auf, sehen, wie der Nachbar die vertrockneten Blüten seiner Geranien abzupft und sich, den Mund rhythmisch öffnend und schließend, dabei im Takt wiegt. Das Kind badet in der Plastewanne und planscht. Es ist glücklich. Es schaukelt mit der Wanne hin und her, doll und doller, es gibt einen Schwapp, den Sie gedämpft durch die Kopfhörer wahrnehmen und plötzlich schwimmt die Quietsche-Ente im Springbrunnen, Ravi hört mit einem Knall auf zu spielen, das Wasser läuft durch den Recorder -> Kopfhörer herunterreißen, hochschauen: das Kind brüllt schockiert, die Mutti des Kindes brüllt, Sie gehen zitternd in Ihre Wohnung, ziehen sich etwas Trockenes an, fingern einen Zettel und einen Stift vom Schreibtisch, gehen nach oben und bringen die Ente zurück mit der Frage, ob alles in Ordnung sei und der Frage nach der Haftpflichtversicherung der Mutti. Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt. Sie legen sich wieder hin, auf das Nagelbrett, aber es piekst. Als der Unternachbar zu grillen beginnt, holen Sie Ihre Batterie Räucherstäbchen hervor, zünden sie an und versinken in einer Wolke und in Trance – Sie scheinen immun gegenüber Konflikten zu sein. Schließlich schüttelt die Mutti über Ihnen die Hundedecke aus, die Haare liegen auf Ihrer gebräunten Brust, schwimmen in Ihrem Jasmintee – Sie schmeißen sich den Kimono über, rennen runter, starten das Auto und wollen zur Eisenbahnbrücke am Kölner Platz, um unter ihr, beim Darüberhinwegdonnern der Züge ordentlich zu schreien (das haben Sie mal in einem Film gesehen), aber Sie kommen nicht hin, alles abgesperrt, die Straße ist aufgerissen, dort wird ein Tunnel gebaut. Was tun Sie? Sie schreien einen der Bauarbeiter an, der endlich eine Pause macht, eine Thermoskanne auf einem umgedrehten Eimer stehen hat, Sie treten dagegen und … entschuldigen sich bei ihm, als Sie den Ausfall bemerken. Ja, es ist nicht leicht, kein Teil eines Konfliktes zu werden. Aber die Entschuldigung interessiert den Bauarbeiter nicht, er ist seit fünf Uhr auf den Beinen, muss am Sonnabend ran, damit der Zeitplan eingehalten wird – Sie wachen von Ihrer Bewusstlosigkeit im Krankenhaus auf. Was haben Sie falsch gemacht? Sie können sich glücklicherweise an nichts erinnern. Sie erfahren, dass Ihr Auto abgeschleppt wurde, der Wohnungsschlüssel liegt im Handschuhfach, Sie können es erst auslösen, wenn Sie bezahlt haben. Das Portmonee liegt zu Hause. Man verlegt Sie auf eine psychiatrische Station, als Sie einen Tobsuchtsanfall bekommen. Der Nachbar hatte von dem Vorfall an der Baustelle in der Zeitung gelesen, er sucht Sie, leiht Ihnen das Geld, holt das Auto ab und Sie beschließen, demnächst gemeinsam im Chor zu singen. Schon stehen Sie neben ihm in der Ecke der Bassbaritone, singen euphorisch, denken an nichts und erinnern sich später an Goethes Erkenntnis: Oft schon war ich, und hab wirklich an gar nichts gedacht!

Das Nagelbrett wird umgedreht, Sie können sich seit dem Vorfall nicht mehr konzentrieren. Sie liegen darauf, der neue MP3-Player flötet Volkslieder in ihr Ohr. Bis Sie merken, dass irgendetwas anders ist als sonst, sind Sie längst eingeschlafen, denn Sie haben Ihre Tablette schon genommen. Sie gewinnen im Lotto, kaufen sich eine einsame Insel, schön, aber Ihnen fehlen der Nachbar und seine Geranien. Sie verschenken die Insel und kommen zurück, da ist der Nachbar weggezogen, Sie suchen ihn, Sie finden ihn, ganz woanders, und er hat inzwischen eine Frau. Sie sind traurig. ‚Ich habe immer alles getan, nicht Teil von Konflikten zu sein, aber daran schert sich der Konflikt überhaupt nicht‘, denken Sie. Ja, Sie denken, also sind Sie. Sie freuen sich schließlich, wie die Entwicklung sich für Ihren Nachbarn entwickelt hat. Sie gehen zurück in Ihre Wohnung, das Treppenhaus ist ein schöner Wasserfall; der ehemals planschende Junge hat den Wasserhahn in der Küche abgeschraubt, vermutlich, weil er den Dingen auf den Grund gehen will … und so weiter und so weiter und so weiter … Sabine Raczkowski