Individualität und Egoismus sind bei den Leibesübungen zwei unverzichtbare Kategorien. Doch wie weit darf man es in der Praxis damit treiben? Als erste Frage im Raum stand, wie sich das mit dem Ich eigentlich im Sport verhalte? Eine der ersten spontanen und zugegebenermaßen recht holzschnittartigen Antworten lautete so: Ja, natürlich spielt das Ich im Sport eine sehr bedeutsame Rolle. Eine vielleicht sogar größere als in anderen Lebenssphären. Doch dann kam schon der erste Einwurf: Und wie ist das in den Mannschaftssportarten? Hat sich denn nicht gerade dort das Ich dem Wir unterzuordnen, manchmal sogar bedingungslos. Wirkt das Ich dort nicht geradezu schädlich? Haben vorrangig Ich-gesteuerte Athleten in Teamsportarten mithin eigentlich gar nichts zu suchen? Weiter: Wo liegen die guten Seiten des Ichs im Sport? Gibt es sie überhaupt? Und wenn ja, welche positiven Steuerungsfunktionen üben sie unter Umständen aus? Fragen über Fragen also.
Beginnen wir simpel mit einer These, über deren Wahrheitsgehalt seit Jahr und Tag – im Alltag wie in der Wissenschaft – trefflich gestritten wird. Die lautet so: Alle Sportler sind Ich-bestimmt. Und viele, die sich an diesem Diskurs beteiligen, setzen noch einen drauf und behaupten, alle Sportler seien per se Egoisten. Müssten sogar Egoisten sein, sonst funktioniere das gesamte System Sport – also der Vergleich der Individuen untereinander – überhaupt nicht.
Dagegen ist zunächst schwerlich etwas einzuwenden, denn Sport zielt auf Leistung. Und Leistung wiederum, da herrscht selbst in der Wissenschaft nahezu Konsens, beruht im allgemeinen auf dem Bedürfnis des Menschen, über seine (sportlichen) Handlungen in das soziale Umfeld etwas einzubringen, was von anderen vermerkt wird und einen besonderen Rang besitzt. Was den einzelnen heraushebt. Anders gesagt, das eigene Ich bestätigt zu sehen.
Es spricht also zunächst vieles dafür, dass Sport tatsächlich etwas sehr Egoistisches ist. Da muss jeder nur einmal ehrlich auf sich selbst schauen. Sport, etwa im Fitnesszentrum, treibt man nicht für ein, wie auch immer geartetes Kollektiv oder im Namen eines Glaubens. Sport treibt der Mensch, mit welchen Motiven (Gesundheit, Aussehen usw.) auch immer, nur für sich selbst. Beim Sport wird der Einzelne von keiner tieferen Überzeugung angetrieben, Altruismus und große Ideen spielen dabei keine Rolle.
Wie tief der Individualismus beispielweise selbst im Hochleistungssport verankert ist, zeigt ein Blick auf das Programm Olympischer Spiele. Dort dominieren die Einzelwettbewerbe ganz eindeutig die Mannschaftskonkurrenzen. So werden in gut einem Monat bei den Ringe-Spielen in Rio Medaillen bei 306 Entscheidungen vergeben – und, grob gerechnet, vier von fünf Plaketten winken den Besten in den Individualwettbewerben. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, darauf zu verweisen, dass im Spitzensport nach allgemeiner Erkenntnis der Wissenschaft Leistungsmotivation ohne egoistische Komponente natürlich nicht denkbar ist. Wettbewerbssituation und Rivalitätskonstellation des Wettkampfes machen es objektiv erforderlich, dass jeder Sportler in Trainingsbelangen und Materialfragen persönliche Vorteile sucht und nutzt, um besser als die Gegner zu sein. Dieses primäre An-sich-selbst-Denken, das Finden des persönlichen Glücks durch Sport, ist gesunder Egoismus eines Sportlers. Die Wissenschaft spricht hier von einem sogenannten sportiven Egoismus. Einige Autoren gehen sogar noch weiter und postulieren, dass sportive Egoisten ihr Glück nur in der Gemeinschaft Gleichgesinnter zu finden vermögen. Gleichwohl, auch sie finden das sprichwörtliche Glück eben erst dann, wenn sie gemeinsam einen Gegner überbieten. Hier haben wir es gewissermaßen mit einer Form des kollektiven Ichs zu tun.
Kritikwürdig werden im Sport egoistische Verhaltensmaxime folglich erst dann, wenn die ausgeprägte Ich-bezogenheit mit unerlaubten oder sogar unfairen Mitteln praktiziert wird (z.B. Doping). Konfliktlagen können in einem Team entstehen, wenn egoistische Leistungsambitionen mit mannschaftsdienlichen taktischen Aufgabenstellungen unvereinbar erscheinen und subjektiv als Benachteiligung erlebt werden.
Bleiben wir kurz beim Stichwort egoistische Leistungsambitionen. In den Tagen der gerade beendeten Fußball-Europameisterschaft waren die Namen zweier Stars in aller Munde, die in der Vergangenheit oft demonstriert haben, dass sie das eigene Ich oft über das Wohl des Teams stellen: Cristiano Ronaldo und Zlatan Ibrahimovic. Zwischen Selbstverliebtheit und Größenwahn liegt bei dem Portugiesen und dem Schweden oft nur ein kleiner Schritt. An manchen Tagen, so beschrieb der „Spiegel“ dieser Tage Ronaldo, sei er „ein großkotziges Genie, an anderen ein genialer Großkotz“. Den Hohn gegnerischer Fans erkläre er so: „Ich bin reich und schön und ein großartiger Spieler. Es gibt keine andere Erklärung.“ Ibrahimovic bezeichnet sich seinerseits selbst als „Legende“, ja „Gott“. Das ist Narzissmus, diese sich in unserer Gesellschaft wie eine geschwulstartige Krankheit ausbreitende Neurose, in Reinkultur.
Man kann es als Größenwahn abtun. Doch etwas sollte dabei nicht übersehen werden: Beide Akteure spielen ihre Ich-Bezogenheit im Streben nach Kapital-Maximalverwertung bewusst aus. Es ist kein Zufall, dass der größere Teil ihrer jenseits der 50-Millionen-Euro-Marke liegenden Jahreseinkünfte nicht aus dem Salär als Fußballer entspringt, sondern der Verwertung ihres Namens entstammt. Was auf den ersten Blick als (teils selbstironische) Überhöhung der eigenen Größe klingt, dient in Wirklichkeit zu nichts anderem als der weiteren Ausprägung der eigenen Marke. Ähnliche Gedanken müssen jüngst auch der „Frankfurter Allgemeinen“ durch den Kopf gegangen sein, als sie unter Hinweis darauf, dass weder ein Messi, ein Ronaldo oder ein Ibrahimovic es bisher in seinem Nationaltrikot zu einem großen Titel gebracht habe, schrieb: „Der wahre Weltstar des Fußballs bleibt das Team.“ Um danach leicht resignierend hinzuzufügen: „Es lässt sich nur nicht so gut verkaufen.“
Ein anderes Beispiel aus dem Balltreter-Lager. Wir nennen es deshalb, weil es in der heutigen Zeit des angeblich so beispielhaften Profifußball eine – zumindest in Deutschland – Seltenheit ist, dass ein Trainer ungefragt und öffentlich seinen Ärger über einen seiner Ansicht nach Ich-bezogenem Spieler freien Lauf ließ. Es geht um Wolfsburgs Fußballlehrer Dieter Hecking und seinen niederländischen Schützling Bas Dost, der über mangelnde Einsatzzeiten geklagt hatte. „Ich habe mich für ihn gefreut, dass er zwei Tore gemacht hat“, meinte Hecking, um dann erst richtig loszulegen. „Aber so, wie er die letzten Tage rumgelaufen ist, das geht nicht. Das ist Egoismus und den brauchen wir hier nicht.“ Da hatte ein Star sein Ich über das Wir gestellt. „Wenn einer im Training drei Tage so rumläuft, als hätte man ihm das Spielzeug weggenommen, dann ist das sehr bedenklich. Dann sollte er seine Einstellung zur Mannschaft schleunigst überdenken.“
Einer, der seine Einstellung zum Team hingegen nie überprüfen musste, ist Basketball-Superstar Dirk Nowitzki. Für ihn, weltweit einer der Größten seiner Branche, war es nie eine Frage, sich der international keineswegs überragenden deutschen Mannschaft zur Verfügung zu stellen, sich einzubringen und einzuordnen. Er hat nie gefragt, schadet das möglicherweise meinem Ich, meinem Marktwert in der US-amerikanischen NBA-Liga. Das macht ihn, selbst als Multimillionär, zu einem echten Vorbild. Was das Beispiel des besten deutschen Korbjägers aller Zeiten aber ebenso zeigt: Vielfach sind es gerade erst die einzigartigen individuellen Fähigkeiten eines einzelnen, die eine Mannschaft voranbringen, sie auf ein ungeahntes Hoch katapultieren können. Individualität als Treibstoff also dafür, im und als Team Großes vollbringen zu können.
Es gehört zweifellos zu den Sternstunden des Sports, wenn ein Aktiver im Wettkampf bereit ist, nicht nur sein Ich bewusst zurückzustellen, sondern zugunsten eines Erfolgs der Mannschaft oder eines Teamkollegen sogar auf eigene Siegchancen zu verzichten. Dies führt – selbst wenn es bereits über ein halbes Jahrhundert her ist (merke: früher war ja nicht alles schlecht) – gedanklich unweigerlich zu einem der denkwürdigsten Sportereignisse, die je in der DDR stattfanden. Und zu einem Namen, der im Osten und insbesondere in Magdeburg seither Legende ist: Täve Schur.
Als bei der Straßenradsport-Weltmeisterschaft 1960 auf dem Sachsenring kurz vor dem Finale eine Dreiergruppe mit den beiden DDR-Fahrern Schur und Bernhard Eckstein sowie dem Belgier Willy Vandenberghen vorn lag, setzte sich Eckstein plötzlich allein ab. Vandenberghen zögerte und blieb bei Schur, da er fest davon ausging, davon ausgehen musste, dass sich der Deutsche ausgerechnet in seiner Heimat seinen dritten WM-Sieg in Folge keinesfalls von einem Edel-Helfer nehmen lassen würde. Doch Schur verzichtete auf eine Verfolgungsjagd – und bremste damit den Belgier aus. Als dem dämmerte, welch einmalige Situation er da gerade miterlebte, war es zu spät. Eckstein gewann mit sieben Sekunden Vorsprung vor Schur, der dann noch den Sprint gegen Vandenberghen für sich entschied.
Das Verhalten des Mannschaftskapitäns wurde in der DDR-Presse natürlich propagandistisch ausgeschlachtet und mit Schlagzeilen wie „Schur schenkt Eckstein den Titel!“ und „Unser Weltmeister verzichtet für seinen Freund auf den Sieg!“ als selbstlose Entscheidung zugunsten Ecksteins dargestellt. Schur selbst meinte hinterher zu seinem entgangenen dritten Titel eher lapidar: „Dieser Verzicht war für mich selbstverständlich. Denn wir haben das Regenbogentrikot für unser Land geholt. Die Weltmeisterschaft war in dieser Situation nicht anders zu gewinnen.“ Leicht amüsiert fügte er hinzu: „ Dass das die Menschen so begeistert hat, habe ich daran gespürt, dass sich mein Handwurzelknochen entzündet hat vom vielen Händeschütteln.“ Immerhin: Schur hat von seinem Handwurzelknochen gesprochen, nicht von unserem.