Rotkäppchen konnte es nicht mehr hören. Äußerte sie gegenüber ihrer Mutter den Wunsch, die Großmutter besuchen zu dürfen, antwortete sie nicht mit einem „Ja!“ oder „Nein!“ Die Mutter hielt einen Vortrag über den bösen braunen Wolf, der im Wald lauere, wahrscheinlich in der Nähe des Hauses der Großmutter, zu dessen Tür er bereits vor etlicher Zeit den Schlüssel habe abgeben müssen, den er einst besaß, weil er für die Großmutter einholen ging. Nein, der braune Wolf sei kein Griesgram, warnte sie Rotkäppchen, ein Charmeur sei er, ein Verführer, der seine krausen Gedanken im wohltuenden Rauschen des Waldes einbette, der säuseln ließe, was geschrien gehöre. Die Mutter fand kein Ende bei diesen Vorträgen, so dass Rotkäppchen beschloss, demnächst sein Körbchen zu packen, ohne dass es die Mutter um Erlaubnis fragte. Ewig diese Abstimmungen, sagte sie sich. Das geht nicht ohne Palaver. Ach, sagte sie der Verkäuferin im alternativen Tante-Emma-Bioladen, in den die Mutter einkaufen ging, die Mutter sei krank, die Großmutter warte in ihrem Häuschen im Wald auf den griechischen Wein, die Kekse, das Suppenfleisch und den Kaffee aus dem Angebot. Sie möchte ihr doch all das bitte in den Korb legen und anschreiben, bis die Mutter zahlen käme. Ja ja, sagte die Verkäuferin, freilich, beim Wein habe sie Schwierigkeiten. Zumindest könne sie welche bekommen, weil sie gegen das Jugendschutzgesetz verstoße. Ach wo, sagte Rotkäppchen, dann sagen Sie einfach, dass ich ja noch ein Kind gewesen sei.
Kurz und gut, Rotkäppchen verführte die Verkäuferin mit der Zusage, dass alles rechtens sei und sie darum alle Fünfe gerade sein lassen könne. Dann machte sie sich auf den Weg in den Wald. Der Wolf ist los, dachte sie. Das wird schon nicht so schlimm werden. Auch der Wolf ist sterblich, darum hat er Wünsche und Vorstellungen, denen man entgegenkommen kann. Unversehens stand er vor ihr, die Liebenswürdigkeit in Person. Du und ich, sagte er, sind doch das Volk des Waldes. Du willst das Gute, ich finde auch, Deine Großmutter hat Besseres verdient, als in ihrem Häuschen herumzuliegen. Ich bin auch für den Fortschritt für Alle. Was hast du denn in deinem Körbchen?
Rotkäppchen antwortete höflich, dass sie für die Großmutter eingekauft habe und ihr dies nun bringen wolle. Lass uns einfach ein Stück des Wegs gemeinsam gehen, schleimte der Wolf wiederum. Wisse, ich bin schon seit langem hier in diesem Wald gefangen. Die Leute meinten, ich sei ein schlimmer Schelm. Glaubst du das auch? Rotkäppchen schüttelte den Kopf. Du gefällst mir, sagte sie. Wir wollen beide etwas für die Großmutter tun. Lass es uns gleich tun.
Die beiden trotteten nebeneinander her, der Wolf leckte sich die Schnauze. Rotkäppchen agitierte ihn: Zu zweit können wir die Großmutter aus dem Bett holen und ans Fenster setzen, meinte sie. Der Wolf musste aufpassen, dass ihm nicht der Geifer von den Lefzen tropfte.
Am Haus der Großmutter angekommen, legte der Wolf seinen Zeigefinger auf den Mund. Sei still, sollte das heißen. Rotkäppchen verstand. Der Wolf schlich sich um das Haus und blickte in die Fenster. Sie liegt im Schlafzimmer, sagte er dann. Ich gehe voraus und melde dich an, meine Liebe, dass sie sich nicht erschreckt. Rotkäppchen schöpfte keinen Verdacht. Als der Wolf die Tür öffnete, hörte Rotkäppchen, dass aus dem Schlafzimmer die Musik der Rolling Stones klang, die sie mithören musste, wenn die Mutter zu Hause eine Scheibe auflegte. Das sind die Aufnahmen von „Havanna Moon“, dem Kuba-Konzert, klärte sie der Wolf auf, der ein begeisterter Fan der Band war. Stell dir vor: Hunderttausende Kubaner, darunter viele junge Leute, feierten diese Alte-Herren-Band, die sich von der Begeisterung und Fröhlichkeit ihres Publikums anstecken ließ. Hach, da waren so frische, gutgenährte Mädchen im Publikum. Dem alten Wolf traten geradezu die Augen aus den Höhlen bei der Erinnerung an die Bilder, die er freilich auch nur vom Bildschirm her kannte. Ach, meinte Rotkäppchen, da gaukeln die Bilder oft mehr vor, als in Wirklichkeit vorhanden ist. Es geht doch nichts über eine frische junge Deern im Direktverzehr, meinte das Rotkäppchen und musste über den eigenen Witz lachen. Das hätte sie nicht tun sollen. Mit einem Satz war der Wolf bei ihr, mit einem Happs war das Rotkäppchen verschlungen. Ich habe den Schlüssel zur Großmutter aufgefressen, dachte der Wolf, als Rotkäppchen ihm bereits den Schlund hinabrutschte. Doch die hatte in ihrem Schrecken den Schlüssel aus der Hand fallen lassen. Nun konnte der Wolf das Haus öffnen, verschlang ohne viel Federlesens die Großmutter hinterdrein, allerdings mit den Füßen voraus, so dass der Kopf der Alten dem Wolf aus dem Maul schaute. Das war auch für den Wolf kein Vergnügen, denn Rotkäppchens Großmutter, das hatte das Kind vergessen, dem Wolf zu sagen, hatte einen fürchterlichen Mundgeruch, der dem Wolf gewaltig zu schaffen machte. Mein Gott, dachte der, ich wusste nicht, dass das Volk derart zum Himmel stinken kann. Nach Einbruch der Dunkelheit kam der Jäger ohne Anklopfen ins Schlafzimmer der Großmutter. Das war er so gewohnt, weil er ein Verhältnis mit ihr hatte. Er legte sich zum Wolf ins Bett. Dass im Märchen erzählt wird, der Jäger habe das Schlafzimmer der Großmutter wieder verlassen, ist eine schamlose Lüge, die Eltern erfunden haben, die ihren Kindern ein gutes Ende der Geschichte vorgaukeln wollten. Der Wolf rief vielmehr anderen Tages den Bürgermeister des Nachbardorfes an und beauftragte ihn, jeden zweiten Morgen einen seiner Dorfbewohner frisch gewaschen zu schicken, dass er ihr, Rotkäppchens Großmutter, Pflegedienste leisten könne. Die Krankenkasse würde es bezahlen. Sie brauchten nicht anzuklopfen. Auf diese Weise bringen wir die Menschen in Arbeit, sagte er noch, bevor er den ersten, der die Tür zu ihm öffnete, fraß – und im Laufe der Zeit alle anderen ebenfalls. Wir müssen uns wehren, sagte der Bürgermeister, als er merkte, dass keiner seiner Dorfbewohner wiedergesehen wurde. Doch da war es zu spät. Es gab schlicht niemanden mehr, der den Ruf des Bürgermeisters hätte hören können.
Ja, so geht das in Wirklichkeit aus, wenn man seine Karten auf den Falschen setzt. Wer Ihnen etwas anderes erzählen will, lügt. Neulich schrieb mir jemand aus Wolfen, dass es an der Zeit sei, dass wir wieder Geschichten erzählen. Erzählen ist gemeinschaftsstiftend, sagte er. Da bin ich als langsamer Leser aber gespannt.